Storys aus Studium und Lehre
Glänzende Leistungen verdienen besondere Anerkennung: Die UZH zeichnet herausragende Arbeiten von Studierenden mit einem Semesterpreis aus. Entdecken Sie, wie solche Arbeiten entstehen, welchen didaktischen Wert sie haben und welche Unterstützung Dozierende dabei leisten.
Wie Vogeldünger in der Karibik Geschichte machte – das ist Thema einer Seminararbeit von Vivianne Rhyner. Die Geschichtsstudentin beleuchtet darin die komplexen Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft.
Navassa ist eine winzige Insel, die auf den meisten Karten der Karibik gar nicht verzeichnet ist. Aber im Jahr 1899 kam es dort zu einem Ereignis, das das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu ihren quasi-Kolonien auf abgelegenen Inseln nachhaltig veränderte. Bei einem gewalttätigen Aufstand von Arbeitern, die auf der Insel Guano-Dünger abbauten, kamen mehrere Aufseher ums Leben. Der Aufstand auf der abgelegenen Insel wurde in der damaligen US-amerikanischen Öffentlichkeit breit diskutiert und richtete ein Schlaglicht auf die sozialen Kosten der Minenarbeit.
Denn Guano – ein nährstoffreicher Dünger aus den Exkrementen von Seevögeln und Fledermäusen – war eine wichtige Ressource. Seit Mitte 19. Jahrhundert hatte Guano einen regelrechten Rush befeuert.
Auf Navassa kam es nicht ohne Grund zum Aufstand, wie Bachelorstudentin Vivianne Rhyner bei ihren Recherchen für ihre Seminararbeit herausfand, denn die Arbeitsbedingungen auf der Insel waren gesundheitsgefährdend und menschenverachtend. «Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stieg die Nachfrage nach Dünger in den westlichen Ländern enorm an», erklärt Rhyner. Besonders grosse Vorkommen fanden sich auf den Inseln im Pazifik und in der Karibik, so auch auf Navassa. Welche historischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der grosse Bedarf an Dünger hatte, war die Forschungsfrage, die sie in ihrer Seminararbeit beantworten wollte.
Auf das Thema gestossen war sie im Seminar «Mapping Pacific History» von Geschichtsdozent Jonas Rüegg. «Dünger aus Guano ist ein wichtiges Thema in der Geschichte des Pazifiks, da er eine der Ressourcen darstellt, um die sich Prozesse von Kolonisierung, Arbeitsmigration und Umweltzerstörung in Ozeanien drehten», sagt Rüegg. «Als Vivianne für ihre Seminararbeit auf Navassa kam, wusste ich zuerst selbst nicht, wo das ist, doch die Geschichte der Insel ergänzt das Bild des Guano-Rushes im Pazifik. Vivianne hat das Thema ihrer Arbeit selbst gesetzt und gründlich recherchiert. Sie hat Primär- und Sekundärquellen analysiert und sich kritisch mit der Düngernutzung aus wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Perspektive auseinandergesetzt» Für ihre besonders originelle, interdisziplinäre Leistung habe Vivianne Rhyner den Semesterpreis verdient, so Rüegg.
Bei ihrem Quellenstudium richtete Vivanne Rhyner den Fokus auf die Berichterstattung in den USA, die das Geschehen aus Sicht der damaligen Zeit beleuchtet. «Ich habe viel gelesen und schliesslich die Zeitungsartikel als Primärquellen ausgesucht», sagt die Geschichtsstudentin. Die Texte beschrieben, wie 130 Arbeiter von der Navassa-Insel nach dem Aufstand festgenommen und in die USA gebracht wurden. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ehemalige Sklaven und andere Arbeiter auf der Karibikinsel, die ja eigentlich nicht zum Hoheitsgebiet der USA gehörten, auf der Insel arbeiten mussten?
«Der Grund liegt im Guano Islands Act von 1856» erklärt Rhyner. «Das Gesetz erlaubte es US-Bürgern, Inseln in internationalen Gewässern zu besetzen, wenn diese Guano Lagerstätten aufwiesen». Das Anwaltsteam der angeklagten Arbeiter focht damals die Verfassungsmässigkeit des Guano Island Act an. Sie argumentierten, dass die Insel Navassa nicht zu den Vereinigten Staaten gehöre und die Arbeiter daher nicht nach amerikanischem Recht verurteilt werden dürften. Der Oberste Gerichtshof bestätigte jedoch die Gültigkeit des Gesetzes, wodurch der territoriale Anspruch der USA auf die Guano-Inseln bekräftigt und die Verurteilung der Arbeiter bestätigt wurde.
«An diesem Punkt sieht man deutlich die Verflechtung von Wirtschaft und Recht, die hier und anderswo die territoriale Expansion der USA vorantrieb», sagt Rhyner. Die Artikel vermittelten der Studentin zudem ein Bild davon, unter welch unmenschlichen Bedingungen die mehrheitlich nicht-weissen Arbeiter auf Navassa schuften mussten.
Vivianne Rhyner und Jonas Rüegg planen eine Reise in die Vergangenheit – unter der Ägide eines Guano-produzierenden Riesenalbatrosses.
Aus den Quellen ergaben sich viele interessante Fragestellungen. «Schliesslich muss man sich jedoch für bestimmte Primärquellen entscheiden und den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen», sagt Rhyner. Die Vorgaben, worauf bei einer Seminararbeit in Geschichte zu achten ist, kannte sie: Länge der Arbeit, korrekte Zitierweise und sauber durchgeführte Methodik. «Ich fühlte mich sicher im Umgang mit Quellen, Literatur und Recherche. Die Herausforderung bestand darin, eine geeignete Form zu finden, den Stoff so aufzubereiten, dass es stimmig und wissenschaftlich korrekt war», sagt Rhyner.
«Den Studierenden beim Verfassen ihrer Seminararbeiten möglichst grosse Freiheiten zu lassen, ist didaktisch durchaus gewollt», erklärt Jonas Rüegg. Ziel des Bachelorstudiums sei es, zu lernen, eigenständig mit Quellen zu arbeiten. «Das Quellenstudium ist ergebnisoffen – die Studierenden müssen sich also auf eine intellektuelle Reise mit unbekanntem Ziel begeben», so Rüegg. Diese Offenheit müsse man aushalten können. Und sich zugleich immer wieder vergewissern, welche weiteren Schritte zielführend sind, welche Aspekte man weiter vertiefen möchte, was man weglassen will und ob es nötig ist, die ursprüngliche Fragestellung nachzujustieren. «Ich ermuntere meine Studierenden eine Mind Map zu zeichnen, denn die visuelle Umsetzung bringt oftmals Erkenntnisgewinn», erklärt der Geschichtsdozent. So habe Vivianne zum Beispiel die Insel gezeichnet, und dabei eine Vorstellung von der Grösse und den Bedingungen vor Ort bekommen. Das habe sie auch im Seminar den Mitstudierenden gezeigt und mit ihnen ihre Arbeit diskutiert.
Eine Seminararbeit sollte nicht im stillen Kämmerlein geplant werden, sagt Rüegg. Wichtig ist dem Geschichtsdozenten, dass sich die Studierenden untereinander austauschen – so wie es auch bei Vivianne Rhyner der Fall war. «Das hilft, die eigene Arbeit zu reflektieren und kreative Blockaden zu überwinden.»
Vivianne Rhyner hat beim Verfassen ihrer Seminararbeit gelernt, mit Freiheiten und Unsicherheit umzugehen. Unmittelbar nach der Fertigstellung der Arbeit begann sie ein Praktikum beim Schweizer Konsulat in New York. «Eine meiner ersten Aufgaben bestand darin, eine Rede für den Botschafter zu verfassen, und ich hatte kaum Vorgaben. Die Erfahrungen beim Schreiben meiner Seminararbeit haben mir geholfen: Ich habe gelernt, selbst Prioritäten zu setzen und die Argumentation gut aufzubauen», sagt sie. Heute arbeitet sie hochmotiviert an ihrem Masterabschluss in Internationalen Beziehungen am Geneva Graduate Institute.
Tiermedizin-Studentin Natalie Miller-Collmann bewies in ihrer Masterarbeit den Mut, sich in einer kontrovers diskutierten Forschungsfrage eigenständig zu positionieren.
«Die Möglichkeit, zur aktuellen Forschung in der Pferdechirurgie beizutragen, hat mich während meiner Masterarbeit motiviert und mich auch über strenge Phasen hinweg getragen», sagt Natalie Miller-Collmann strahlend und krempelt die Ärmel ihres hellblauen Overalls herunter. Die Semesterpreisträgerin kommt gerade aus den Stallungen am Tierspital Zürich. Ihre beiden Betreuungspersonen Anton Fürst, Professor für Pferdechirurgie, und Stefanie Ohlerth, Professorin für Bildgebung, nehmen ebenfalls am Interview teil. Beide bescheinigen Natalie Miller-Collmann eine ausgezeichnete Leistung. Ihre Arbeit wurde auch von der Fachwelt interessiert aufgenommen. An einer Tagung durfte sie die Ergebnisse über Halswirbel beim Pferd vorstellen.
Die Resonanz war unter anderem deshalb so gross, weil über das Thema der Arbeit gerade viel diskutiert wird. Viele Expert/innen vertreten die Ansicht, dass die beiden letzten Pferde-Halswirbel C6 und C7, wenn sie von der Norm abweichen, als pathologisch einzustufen seien und sprechen dann von einer «Malformation». Andere wiederum sehen die unterschiedlichen anatomischen Variationen der beiden Wirbel eher als Teil der natürlichen Variabilität an. Sie argumentieren, dass es zahlreiche genetische und umweltbedingte Faktoren gebe, die die Wirbelsäulenanatomie von Pferden beeinflussen können, leichte Variationen müssten daher nicht unbedingt krankhaft sein.
«Die Grundsatzfrage, ob die Variation der Halswirbel eine anatomische oder pathologische Variation ist, betrifft direkt den klinischen Alltag, denn pathologisch verformte Wirbel müssten behandelt werden», sagt Anton Fürst. Und es gibt auch einen ökonomischen Aspekt: Die Preise von Spring-, Reit- oder Zuchtpferden können schnell einmal 100’000 Franken übersteigen. Gelten die Halswirbel als deformiert, mindert das den ökonomischen Wert des Tieres.
Bei der Vergabe von Masterarbeiten achtet Anton Fürst darauf, dass das Thema fachlich relevant, aber auch im Rahmen einer Masterarbeit zeitlich zu schaffen ist. «Weil wir angewandte Forschung betreiben, sind die Themen in der Regel nicht abstrakt, sondern betreffen Fragen, mit denen die Studierenden im klinischen Alltag unmittelbar konfrontiert sind.» Für ihre Motivation sei das enorm wichtig gewesen, sagt Natalie Miller-Collmann: «Mir geht es letztlich um die Tiere. Es war für mich ein starker Antrieb, mit meiner Masterarbeit etwas zum Wohl des Tieres beitragen zu können.»
Anton Fürst riet seiner Studentin, zunächst ein kurzes inhaltliche Exposé zu verfassen, in der sie ihr Vorgehen beschreiben sollte. «Auf diese Weise kann ich bei meinen Masterstudierenden rechtzeitig intervenieren, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Thema nicht richtig durchdacht wurde». Die Erwartungen der Studierenden an die Betreuung seien sehr unterschiedlich. Die einen fragten viel nach, seien unsicher. Andere versuchten, alles allein zu bewerkstelligen. «Ich versuche, die richtige Balance zu halten zwischen Förderung von Eigenständigkeit und methodischer Unterstützung», sagt Fürst. Ein Ziel sei es, das Selbstvertrauen und die Problemlösungsfähigkeiten der Studierenden zu stärken. «Wichtig ist regelmässiges Feedback und eine vertrauensvolle und offene Kommunikationsbasis, die es den Studierenden ermöglicht, Fragen zu stellen und Herausforderungen zu besprechen und sie zugleich ermutigt, eigene Lösungsansätze zu finden.»
Natalie Miller-Collmann bewies besonders viel Eigenständigkeit. Aus eigenem Antrieb hinterfragte sie die derzeitige Schulmeinung zum Thema Wirbelanatomie bei Pferden. «Ich habe sehr viel recherchiert, gelesen und dann gesehen, dass es zwar schon viele Publikationen zum Thema Halswirbel C6 und C7 gab, die eher der Deformationstheorie zustimmten. Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich all diese Studien in einer bestimmten Hinsicht einseitig waren: Es wurden immer nur kranke Pferde untersucht. Das brachte mich auf die Idee, auch die Wirbelanatomie von gesunden Pferden statistisch auszuwerten.» Es hätte aber Mut gebraucht, einen neuen, eigenständigen Ansatz zu verfolgen, doch sie habe Zuspruch erfahren von Mitstudierenden und ihren Betreuenden, sagt Miller-Collmann.
Forschung nah am klinischen Alltag: Anton Fürst, Professor für Pferdechirurgie, und Natalie Miller-Collmann.
Natalie Collmann bewies besonders viel Eigenständigkeit. Aus eigenem Antrieb hinterfragte sie die derzeitige Schulmeinung zum Thema Wirbelanatomie bei Pferden. «Ich habe sehr viel recherchiert, gelesen und dann gesehen, dass es zwar schon viel Publikationen zum Thema Halswirbel C6 und C7 gab, die eher der Deformationstheorie zustimmten. Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich all diese Studien in einer bestimmten Hinsicht einseitig waren: Es wurden immer nur kranke Pferde untersucht. Das brachte mich auf die Idee, auch die Wirbelanatomie von gesunden Pferden statistisch auszuwerten.» Es hätte aber Mut gebraucht, einen neuen, eigenständigen Ansatz zu verfolgen, doch sie habe Zuspruch erfahren von Mitstudierenden und ihren Betreuenden, sagt Collmann.
Unterstützt von Anton Fürst kontaktierte Natalie Collmann Tierärztinnen und -ärzte in der ganzen Schweiz, die den Allgemeinzustand der zum Verkauf stehenden Renn-, Spring- oder Zuchtpferden untersuchen. Zu diesen standardmässig durchgeführten sogenannten Ankaufsuntersuchungen gehören auch Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule. Die Tierärzt/innen stellten Collmann anonymisiertes Datenmaterial für ihre Arbeit zur Verfügung: So erhielt sie Röntgenaufnahmen von 324 Pferdehälsen mit der jeweiligen Anatomie von C6 und C7.
Um ihre Forschungsfrage zu beantworten, konnte die Studentin die bildgebenden Verfahren an der Vetsuisse-Fakultät nutzen. «Jetzt begann die Detailarbeit», erzählt sie. Es ging darum, die Aufnahmen zielführend zu interpretieren. Dazu erarbeitete sie ein Schema, mit dem sie die Wirbel vergleichen konnte. «Ich habe die Röntgenaufnahmen immer wieder angeschaut», erinnert sich Collmann rückblickend. Man müsse sehr präzise arbeiten, um die Variation genau einzuordnen, zu kontextualisieren und statistisch auszuwerten. «Im Laufe der Zeit wurde sie zur Expertin», lobt Stefanie Ohlerth.
Bildgebende Verfahren wie MRT (Magnetresonanztomographie), Röntgen, Szintigrafie und CT (Computertomographie) sind am Tierspital vorhanden, auch für Grosstiere. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der veterinärmedizinischen Forschung, denn sie ermöglichen eine präzise Diagnostik und die detaillierte Untersuchung von anatomischen Strukturen sowie von pathologischen Veränderungen bei Tieren, sagt Ohlerth. «Für Masterstudierende in der Veterinärmedizin bedeutet dies eine gute Möglichkeit, sich mit modernen diagnostischen Methoden vertraut zu machen. Sie können lernen, wie man bildgebende Verfahren anwendet, interpretiert und in die Forschung integriert». Diese Fähigkeiten seien nicht nur für die akademische Laufbahn von Bedeutung, sondern auch für die praktische Anwendung in klinischen Settings, sagt Ohlerth.
Natalie Collmann liefert in ihrer Arbeit gute Argumente dafür, dass leichte Variationen der Pferdehalswirbel nicht unbedingt krankhaft sein müssen. Aufgrund ihrer Ergebnisse schlug sie eine neue Nomenklatur der Halswirbelvariationen vor, die sich von der eindeutigen pathologischen Sichtweise verabschiedet. Der neue Begriff Equine zervikothorakale Variation (ECTV) ordnet die Varianten des C7 und C6 als Variation ein und nicht als eindeutig pathologisch. ECTV könnte aufgrund von Zuchtselektion entstanden sein. Ob diese Vermutung richtig ist, könnte eine Folgestudie mit einer Population von ursprünglichen Rassen mit kürzeren Hälsen zeigen.
Nathalie Collmann will Tierärztin werden. Das Studium habe sie dazu befähigt, eigenständig Wissen erarbeiten zu können und auf dieser Grundlage verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Am Ende des Gesprächs schlüpft sie wieder in den blauen Overall und geht in die Stallungen. Dort benötigt ein Pferd eine sachkundige Untersuchung.
Rocco Bagutti analysierte in seiner Masterarbeit das Reiseverhalten von Forschenden. Seine mit einem Semesterpreis ausgezeichnete Studie hilft dabei, Lösungen für die Reduktion von Emissionen aus Flugreisen zu finden.
Geographiestudent Rocco Bagutti interessiert sich für nachhaltige Mobilitätssysteme. Ihm geht es darum, die negativen Umweltauswirkungen von Reisen zu minimieren. Deshalb schloss er sich im Frühjahrssemester 2020 der «Air Miles Group» an, deren Mitglieder die Flüge des Geographischen Instituts unter die Lupe nehmen, um sie so weit wie möglich zu reduzieren. Denn sie wissen um die schädlichen Emissionen, deren Folgen für den Klimawandel und nicht zuletzt um die Auswirkungen auf die schmelzenden Gletscher, die gerade am Institut intensiv erforscht werden.
Dort traf der junge Tessiner auf engagierte Mitarbeitende: vom Professor über Assistierende bis hin zu Personen aus dem administrativen Bereich, die alle am gleichen Strang zogen. Die Air Miles Group nahm mit ihrem Anliegen damals an der UZH eine Pionierrolle ein. Später wurde sie dafür am Dies academicus der UZH mit dem «Team-Effort-Preis» geehrt, weil sie seit 2017 in unzähligen Stunden Freiwilligenarbeit die Flugdaten von Mitarbeitenden und Gästen erhoben und jährlich publiziert hat.
Rocco Bagutti erkannte in den Flugreisedaten einen ungehobenen Schatz, der, wissenschaftlich ausgewertet, dem Institut detailliertere Informationen liefern könnte. So schlug er vor, in seiner Masterarbeit diese Daten mit statistischen Methoden zu analysieren. Und noch etwas wollte er erfahren: Was waren die Beweggründe fürs Fliegen? Unter welchen Bedingungen waren die Mitarbeitenden des Geographischen Instituts bereit, auf Flüge zu verzichten? Welche Alternativen nutzten sie?
Die Gruppe reagierte mit grosser Zustimmung auf Baguttis Vorschlag. Peter Ranacher, Oberassistent am Geographischen Institut, ebenfalls Mitglied der Air Miles Group, bot an, die Masterarbeit wissenschaftlich zu begleiten. Das Thema wurde auch von Geographieprofessor Michael Zemp angenommen. «Es hat mich enorm motiviert, etwas zu tun, was für das Geographische Institut von Interesse ist», sagt Rocco Bagutti.
Mit dem Kopf in den Wolken – wortwörtlich: Rocco Bagutti auf dem Dach des Geographischen Instituts am Standort Irchel.
Bei der Planung seiner Arbeit ging Rocco Bagutti Schritt für Schritt vor. Zunächst wertete er die am Institut gesammelten Flugdaten statistisch aus. Mit Hilfe eines geografischen Informationssystems (GIS) visualisierte er die Flugverkehrsströme in Form von Grafiken, erstellte zeitliche und räumliche Mobilitätsmuster und kombinierte danach die Flugdaten mit den Ergebnissen einer Online-Befragung aller wissenschaftlichen Mitarbeitenden des Geographischen Instituts.
Um herauszufinden, welches Potenzial verschiedene Reduktionsmassnahmen haben, reichte ein einziger methodischer Zugang nicht. Rocco Bagutti bediente sich deshalb des sogenannten Multi Methoden-Ansatzes, der besonders anspruchsvoll ist, wie Betreuer Peter Ranacher betont. Das technische und datenwissenschaftliche Know-How erwarb Rocco eigenständig, dabei suchte und fand er auch ausserhalb des Geographischen Instituts Unterstützung. Ariane Wenger, Umweltwissenschaftlerin an der ETH Zürich, hatte sich in ihrer Dissertation im Zusammenhang mit dem Flugreisen-Projekts der ETH Zürich, mit der Reduktion akademischer Flugreisen befasst. Auf Wengers Expertise konnte Rocco Bagutti zurückgreifen.
Mit statistischen Verfahren erhielt Rocco ein genaues Bild davon, wie häufig wohin geflogen wird. Um ergänzend dazu herauszufinden, welche Meinungen die Forschenden des Geographischen Instituts zur Reduktion von Flugreisen haben, führte er eine Mitarbeitendenbefragung durch. Er erhielt dadurch vertiefte Einblicke in die Dynamik wissenschaftlicher Karrieren und erkannte, wie wichtig internationale Beziehungen in der akademischen Welt sind. «Nicht nur zur Durchführung von Forschungsprojekten sind Reisen nötig, sondern zum Beispiel auch fürs Networking an Kongressen», sagt er. Unter anderem konnte er in seiner Studie zeigen, in welchen Fällen virtuelle Kommunikation bevorzugt wird und in welchen eher Treffen von Ort.
«Rocco Bagutti hat im Rahmen seiner Masterarbeit eine wissenschaftliche Studie erstellt, die sehr hohen Ansprüchen gerecht wird und auch längerfristig von hohem praktischen Wert ist», sagt Betreuer Peter Ranacher. «Wer eine Masterarbeit so umsichtig plant, so präzise durchführt und so professionell auswertet, hat einen Semesterpreis auf jeden Fall verdient», sagt er.
«Für die Reduktion der Flugreisen an der UZH war Roccos Studie von grossem Nutzen», sagt Ranacher. Die Studie diente einerseits als Grundlage für die Dokumentation der Gründe für Flugreisen am Geographischen Institut und half andererseits der UZH dabei, Lösungen zu finden, wie Flugreisen reduziert werden können, ohne Forschungsprojekte und wissenschaftlichen Karrieren zu beeinträchtigen. Dank ihrer Veröffentlichung erbrachte die Studie zudem einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Literatur. Die Flugreisen am Geographischen Institut und die daraus entstandenen Emissionen haben sich in den letzten Jahren deutlich reduziert, wie aus den jährlichen Berichten hervorgeht. So flogen Institutsangehörige im Jahr 2023 um 30 Prozent weniger als in der Referenzperiode 2017-2019.
Bis 2024 war Rocco Bagutti Mitglied der Sustainability Task Force am Geographischen Institut. Inzwischen hat er sein Studium abgeschlossen und arbeitet beim Bundesamt für Strassen.
Medizinstudentin Marlene Münger widmete sich in ihrer Masterarbeit der Diagnose angeborener Immundefekte. Dabei konnte sie Krankheitssymptome bestimmten Genen zuordnen.
Kinder mit einem angeborenen Immundefekt sind nicht in der Lage, sich ausreichend gegen Krankheitserreger zu wehren. Bei manchen Kindern sind die Auswirkungen so schwerwiegend, dass sie bereits in den ersten Lebensmonaten an heftigen Infektionen leiden. Behandelnde Ärztinnen und Ärzte haben häufig Schwierigkeiten, solche angeborenen Immundefekte zu erkennen, ähneln die Symptome doch oft gewöhnlichen Infekten. Für die Diagnose erschwerend kommt hinzu, dass es sehr viele verschiedene Arten von angeborenen genetisch bedingten Immundefekten gibt, die sich in ihren klinischen Erscheinungsbildern und der Schwere der Symptome stark unterscheiden.
Medizinstudentin Marlene Münger kennt diese Problematik. Während ihres Studiums entwickelte sie ein ausgeprägtes Interesse für das menschliche Immunsystem. «Mich hat erstaunt, wie hochkomplex es ist und wie empfindlich es auf genetische Fehler reagiert», sagt sie. Noch sei nicht genau erforscht, wie die Wechselwirkungen zwischen Immunzellen zu verstehen sind und warum das Immunsystem bei Defekten fälschlicherweise körpereigene Zellen angreife. «Ich wollte deshalb meine Masterarbeit diesem Thema widmen», erklärt sie.
In Jana Pachlopnik Schmid, Professorin für pädiatrische Immunologie an der UZH, fand Marlene Münger eine geeignete Betreuerin. Sie verfolgt in ihrer Forschung unter anderem das Ziel, die Diagnose von angeborenen Immundefekten zu erleichtern. Als Marlene Münger sich bei ihr meldete und um die Betreuung ihrer Masterarbeit anfragte, stiess sie auf offene Ohren.
«Ich möchte meine Studierenden dazu anregen, neugierig zu sein, neue Ideen zu entwickeln und selbständig Lösungen zu finden. Eine unterstützende Atmosphäre zu schaffen, ist mir sehr wichtig», sagt Pachlopnik. Und Marlene Münger erzählt: «Ich habe mich dank Jana als Forscherin gefühlt und ganz vergessen, dass ich ja noch Studentin bin».
Während ihrer Recherchearbeit am Kinderspital lernte sie das Immunologie-Team kennen und erfuhr nebenbei auch viel vom klinischen Alltag und der Arbeit mit den kranken Kindern. «Diese Erfahrungen haben mich sehr motiviert», erzählt sie. «Ich war Teil eines Teams, das sich tagtäglich dafür einsetzt, dass kranken Kindern geholfen wird.»
Ihre Masterarbeit beinhaltete eine umfassende Literaturrecherche. Unter mehr als 1500 wissenschaftlichen Studien wählte sie diejenigen aus, die Krankheitssymptome beschreiben und angeborene Immundefekte identifizieren. Danach gruppierte sie die Krankheitssymptome und ordnete sie den Gendefekten zu.
«Ich war Teil eines Teams, das tagtäglich kranken Kindern geholfen hat», sagt die Medizin-Studentin Marlene Müller.
Um die 1500 wissenschaftlichen Artikel zu Immundefekten zu sichten, organisierte Marlene Münger ein kleines Team von fünf Medizinstudierenden, die sich noch am Anfang ihres Studiums befanden und sie bei der Recherche unterstützten. Die Masterstudentin trug dabei eine besondere Verantwortung, musste sie doch ihre Hilfsassistierenden in die Arbeit einführen, aber auch darauf bedacht sein, dass die wissenschaftlichen Artikel korrekt verstanden und ausgewertet wurden. «Ich erinnere mich, dass wir im Sommer wochenlang in einem heissen Raum im Kinderspital sassen und die Ergebnisse diskutierten», erzählt Münger.
Als Verantwortliche leitete sie die Medizinstudierenden an und musste auch selbständig die Entscheidung treffen, welche Publikationen für die Weiterverarbeitung in Frage kamen und welche nicht. Bei Unsicherheiten konnte sie sich stets auf die Expertise ihrer Professorin verlassen. Am Ende konzentrierten sie sich auf 700 Publikationen. «Diese haben wir analysiert und dabei das Vier-Augen-Prinzip angewendet», berichtet Marlene Münger. Die gesamte Recherchearbeit nahm etwa neun Monate in Anspruch. Dank einer bereits etablierten Webanwendung stellte sie anschliessend die aus der Recherche gewonnenen Erkenntnisse systematisch zusammen.
Aus der Analyse der Daten ergaben sich neue Erkenntnisse: Bei Kindern mit Symptomen wie wiederkehrenden Infektionen, Hautausschlägen und Autoimmunreaktionen lagen genetische Defekte in den Genen ARPC1B und WAS vor. Anders verhält es sich beispielsweise bei wiederkehrendem Fieber und Arthritis: Hier sind Mutationen im Gen NOD2 für die Symptome verantwortlich. In ihrer Masterarbeit dokumentierte die Studentin noch zahlreiche weitere dieser Genmuster.
Diese Erkenntnisse könnte es Ärztinnen und Ärzte künftig erleichtern, schneller zu einer gezielten Diagnose zu gelangen und die richtigen Behandlungsmöglichkeiten zu erkennen und einzuleiten, sagt Jana Pachlopnik. Marlene Münger habe diese Masterarbeit mit grosser Sorgfalt und mit ihrem ausgeprägtem Organisationstalent gemeistert, dafür habe sie den Semesterpreis hoch verdient. Eine zusätzliche Anerkennung für die Studentin ist die geplante Publikation ihrer Arbeit in einem wissenschaftlichen Fachjournal.
Marlene Münger will weiterhin in der Wissenschaft und im Team der Immunologen am Kinderspital bleiben. Sie möchte ihre Arbeit fortsetzen und hat bereits die Dissertation in Angriff genommen, um die Erkenntnisse ihrer Masterarbeit weiter zu vertiefen. «Die Erforschung angeborener Immundefekte ist ein fortlaufender Prozess, der noch viel Forschungsarbeit erfordert», so Münger. Aber mit den immer besseren Diagnosemöglichkeiten gebe es heute für die betroffenen Kinder mehr Hoffnung als je zuvor.
Die katholische Frauenbewegung «Maria 1.0» plädiert für eine traditionelle, religiös geprägte Rolle der Frau in der Kirche. Alexandra Probst hat die Bewegung in einer Seminararbeit analysiert und dafür einen Semesterpreis erhalten.
Die römisch-katholische Kirche steht in der Kritik: Vielen ist sie zu traditionell, zu männerdominiert oder zu hierarchisch organisiert. Katholische Frauen der Bewegung «Maria 2.0» fordern daher seit einiger Zeit umfassende Reformen, insbesondere in Bezug auf die Gleichberechtigung von Frauen in der Kirche.
Dagegen stemmt sich die Initiative «Maria 1.0». Ihr Motto: «Maria braucht kein Update». Sie wurde 2019 von katholischen Frauen als Reaktion auf die Bewegung Maria 2.0 gegründet und vertritt eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und vermittelt ein traditionelles Marienbild. So fordern die Mitglieder unter anderem eine stärkere Betonung der Mutterschaft und des häuslichen Lebens und lehnen die Öffnung des Priesteramts für Frauen ab. Alexandra Probst erfuhr aus den Medien von Maria 1.0: Ihr Interesse an der – dem Zeitgeist entgegensetzten – Bewegung war geweckt.
Wer «Maria 1.0» googelt, findet eine moderne, professionell gestaltete mehrsprachige Website. «Die Bewegung hat etwa 4000 Mitglieder und ist sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz aktiv. Sie spricht eher junge Frauen an und wird auch von jüngeren Frauen getragen», sagt Alexandra Probst.
Als sie im Frühjahr 2023 das Seminar «Diskurs, Praxis und Religionswissenschaft» von Professor Rafael Walthert besuchte, entschied sie sich, ihre Seminararbeit über Maria 1.0 zu schreiben. Sie wollte diese Bewegung mit dem im Seminar behandelten Konzept der Agency in Verbindung setzen. Dieses verortet Handlungen von Individuen in einem strukturierten sozialen und religiösen Rahmen, berücksichtigt aber gleichzeitig auch die individuellen Fähigkeiten, diesen Rahmen zu beeinflussen und zu verändern.
Konkret ging Alexandra Probst der Frage nach, ob und wie Frauen, die sich der traditionsreichen Welt der katholischen Kirche verbunden fühlen, Agency haben. Dabei wollte sie ein erweitertes Verständnis von eigenverantwortlichem Handeln innerhalb repressiver oder autoritärer Strukturen anwenden und die schlichte Alternative zwischen antiautoritärer Kritik und unterwürfigem, affirmativem Verhalten aufsprengen, um den Nuancen dazwischen gerecht zu werden.
In Absprache mit Rafael Walthert entschied sie sich, qualitative Interviews mit zwei Frauen der Bewegung Maria 1.0 zu führen, um herauszufinden, was sie motiviert, wie sie sich als Katholikinnen verstehen und wie sie ihre Rolle in der römisch-katholischen Kirche sehen.
«Als Alexandra mir das Thema vorschlug, stellten wir fest, dass es zur Bewegung Maria 1.0 keine wissenschaftlichen Publikationen gab», erzählt Rafael Walthert. Alexandra Probst sagt: «Ein Thema zu wählen, zu dem es noch keine Literatur gab, hat ein wenig Courage gebraucht. Es war eine Herausforderung, die mich angespornt hat.» Alexandra Probst habe Pionierarbeit geleistet, sagt Walthert.
Alexandra Probst und Rafael Walthert, Professor für Religionswissenschaft, im gotischen Querschiff des Zürcher Fraumünsters.
«Die Agency-Theorie war für mich ein Werkzeug, mit dem ich die Aussagen der Interviews einordnen konnte», erklärt Probst. Durch das Codieren der Gespräche konnte sie Kategorien herausarbeiten wie: Verhältnis zur Kirche, Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau oder Regulierung des Alltags. Ihr Ergebnis: Die beiden Frauen wollen Änderungen anstossen, auch wenn sie ein traditionelles Konzept verfolgen.
«Beide sind tiefreligiös, diese Grundhaltung gibt ihnen Kraft und Legitimation, Veränderungen einzufordern», sagt Probst. Sie leben zwar nach den Regeln, üben aber auch Kritik, insbesondere an der aktuellen bischöflichen Auslegung kirchlicher Regeln. Damit widersprechen sie der gängigen Auffassung, traditionell religiös lebende Frauen seien prinzipiell konformistisch und sich in jeder Hinsicht obrigkeitshörig.
Die Interviews offen zu führen und zu versuchen, die Lebenswelt der Interviewpartnerinnen zu verstehen, ohne sich damit zu identifizieren oder über darüber zu urteilen, habe ein hohes Mass an Selbstreflexion erfordert, sagt Probst. «Ich wurde konfrontiert mit einer Lebenswelt und Überzeugungen, die mir fremd waren. Gleichzeitig fand ich es faszinierend, mich mit dieser tief empfundenen Religiosität auseinanderzusetzen.»
Walthert betont die grosse Leistung, eine subjektive religiöse Erfahrungswelt in wissenschaftlichen Kategorien zu beschreiben. Diese Übersetzungsleistung sei Alexandra Probst hervorragend gelungen. Sie habe eine subtile Interviewtechnik angewendet und sich mit einem komplexen soziologischen Theorieansatz vertraut gemacht.
Für die Beurteilung sei es ihm wichtig, dass die Arbeiten methodisch sauber durchgeführt und auf dem Fundament einer durchdachten Theorie stehen, so dass sie auch in einem wissenschaftlichen Journal erscheinen könnten. Um Studierende beim Schreiben ihrer Arbeit zu unterstützen, bietet Walthert ihnen regelmässige Gespräche an. «Die Hemmschwelle, mich anzusprechen, ist bei uns niedrig, da ich meine Studierenden meist schon aus Proseminaren kenne und die überschaubare Grösse der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät eine gewisse Vertrautheit gewährleistet.»
Alexandra Probst arbeitet inzwischen als Assistentin am Religionswissenschaftlichen Seminar und freut sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Studierende weitergeben zu können.
In seiner Masterarbeit wies Jus-Student Leander Etter per Datenanalyse nach, wie stark sich Sprachbarrieren auf die Arbeit des Schweizer Bundesgerichts auswirken.
Das Schweizer Bundesgericht gibt jährlich zwischen 10’000 und 15’000 Entscheide heraus, im Jahr 2023 waren es etwa 13’000. Jus-Student Leander Etter verglich in seiner Masterarbeit rund 100’000 Bundesgerichtsentscheide im Hinblick auf die Landessprache, in der sie verfasst wurden. Dabei beleuchtete er Aspekte der juristischen Praxis auf Bundesebene, die bisher in dieser Deutlichkeit nicht bekannt waren.
Ganz besonders interessierte Etter die Frage, in welcher Sprache die Rechtsurteile und die Literatur verfasst sind, die in den Bundesgerichtsurteilen zitiert werden. Zitate sind ein wichtiger Bestandteil der Urteilsbegründung und dienen dazu, die rechtliche Argumentation zu untermauern, Präzedenzfälle zu berücksichtigen und das Urteil im Kontext der bestehenden Rechtsprechung und Literatur zu verorten. Sein Betreuer war Tilmann Altwicker, Rechtsprofessor am Lehrstuhl für Legal Data Science und Öffentliches Recht. «Leander Etter ging akribisch wie ein Detektiv vor. Mit analytischer Präzision beleuchtete er Zusammenhänge, die bisher so nicht dokumentiert wurden», sagt Altwicker.
In der Schweiz werden Bundesgerichtsentscheide in der Regel in einer der vier Landessprachen verfasst: Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch. Die Wahl der Sprache hängt davon ab, in welchem Teil der Schweiz der Fall verhandelt wird, oder in welcher Sprache die Parteien ihre Eingaben getätigt haben. Etwa zwei Drittel aller Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts werden auf Deutsch verfasst, da die Verfahren ihren Ursprung in der Deutschschweiz haben. Entscheide in Französisch und Italienisch haben ihren Ursprung in den entsprechenden Sprachregionen. Rätoromanisch geschriebene Entscheide sind selten und kommen nur in sehr spezifischen Fällen vor.
Leander Etter ist im rätoromanischen Sprachraum aufgewachsen und spricht Rätoromanisch. Das habe ihn für sprachliche Belange sensibilisiert, sagt er. «Nach der Matur wusste ich zunächst nicht, was ich studieren sollte, ich schwankte zwischen Jus und Informatik und entschied mich schliesslich für Jus, weil ich auch an Sprache interessiert war.» In seiner Masterarbeit im Bereich Legal Data Science flossen schliesslich all seine Interessen zusammen – jene am Recht, an der Informatik und an der Sprache. Die Auswirkungen der Landessprache auf die Rechtsprechung wurde bisher nur selten umfassend analysiert. «Ich fand dieses Thema besonders spannend und war froh, dass Professor Altwicker es unterstützte», erzählt Etter. Thema und Fragestellung der Arbeit schlug er selbst vor. «Leander Etter hat eine originelle Forschungsfrage gefunden, aber auch ein gutes Gespür dafür gezeigt, was man zeitlich im Rahmen einer Masterarbeit stemmen kann», sagt Altwicker.
Semesterpreisträger Leander Etter in der Giacometti-Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, rechts im Bild die Büste des Zürcher Rechtsprofessors Zaccaria Giacometti.
Die Forschungsrichtung «Legal Data Science» verfolgt das Ziel, mit dem Einsatz quantitativer Methoden Strukturen oder Muster in den Rechtsdaten aufzufinden und neue Zusammenhänge zu erkennen. «Meine Studierenden entwickeln automatisierte Verfahren, um Gerichtsentscheide zu klassifizieren, zu vergleichen oder sogar Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit von Urteilen zu treffen», erklärt Altwicker. Die nötigen Methoden der Datenanalyse erarbeitete sich Etter selbst – «das ist einer der Gründe für die Preiswürdigkeit dieser Arbeit», sagt der Rechtsprofessor.
Bundesgerichtsentscheide haben einen Umfang von 10 bis zu 40 Seiten. Erst seit dem Jahr 2000 werden sie digitalisiert. Etter konnte bei seiner Analyse auf ein etwa 100'000 Bundesgerichtsentscheide umfassendes Datenset des ehemaligen Doktoranden Florian Geering zurückgreifen.
Etter teilte die Entscheide des Bundesgerichts nach Sprachen ein und analysierte die Zitate mit datenwissenschaftlichen und statistischen Methoden. «Das Ergebnis ist brisant», sagt Altwicker. «Die Arbeit wirft ein kritisches Licht auf die Praxis des Bundesgerichts, indem sie zeigt, dass bei der Urteilsbegründung die Sprachgrenzen selten überschritten werden. Indem das Bundesgericht bei der Urteilsbegründung in einzelnen Sprachräumen verharrt, schmälert es seine argumentative Basis. Es wäre für die Qualität der Rechtspraxis besser, wenn das Bundesgericht für mehr Durchlässigkeit zwischen den Sprachräumen sorgen würde».
Leander Etter arbeitete bereits vor seiner Masterarbeit als Hilfsassistent an Altwickers Lehrstuhl. Er war eingebunden in ein Team aus den Bereichen Jus, Informatik und Statistik und erfuhr dabei von allen Seiten viel Unterstützung. «Es ist diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Legal Data Science so spannend macht», sagt er. Kurze Besprechungen über den Stand der Arbeit mit Tilmann Altwicker hätten ihm die nötige Sicherheit vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein.
«Als die ersten Ergebnisse sichtbar wurden, motivierte mich die Aussicht, mit meiner Arbeit einen echten Beitrag zum juristischen Diskurs leisten zu können», sagt Etter. Er hätte zudem gelernt, juristische Fragestellungen mit modernen Datenanalysetechniken zu verbinden. Für die Doktorarbeit, die er nach der Rechtsanwaltsprüfung plane, sei das eine gute Grundlage. In den letzten Jahren habe die Digitalisierung und die zunehmende Verfügbarkeit von grossen Datenmengen die Rechtswissenschaften stark beeinflusst, sagt Etter. «Dadurch eröffnen sich viele neue Forschungsfragen, zu deren Klärung ich in Zukunft gern etwas beitragen würde».
Drei Informatikstudierende entwickelten im Rahmen ihres Masterprojekts eine Softwarelösung, die der Bauernschaft in Sub-Sahara-Afrika helfen könnte, ihre Ernteverluste zu reduzieren.
Springen wir ins Herbstsemester 2022: Am Institut für Informatik findet ein Markt statt. Es ist ein spezieller Markt, denn hier stellen Dozierende Themen für Masterprojekte vor. Informatik Masterprojekte sind anwendungsorientiert ausgerichtet und sollen im Team von zwei bis fünf Studierenden in maximal einem Jahr umgesetzt werden. «In der Software-Entwicklung beruht alles auf Teamarbeit. Es ist empirisch erwiesen, dass Projekte häufiger an Kommunikationsproblemen als an technischen Herausforderungen scheitern. Gerade deshalb ist das Masterprojekt als Teamarbeit so wichtig», sagt Informatik-Professor Lorenz Hilty. «Die Studierenden sollen lernen, mit den typischen Herausforderungen umzugehen, die auch in der Berufspraxis auf sie zukommen werden: Verständigungsprobleme, schwieriges Projektmanagement, komplexe Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Akteuren.»
Zurück zum Markt: Ihr Thema können die Studierenden selbst aussuchen. Die Dozierenden stellen die Aufgabe in einem kurzen Pitch vor. Ann-Kathrin Kübler und Hannah Rohe – beide im Masterstudium – suchen nach einem Thema für ihre Projektarbeit. Beide kennen sich flüchtig, haben aber das Gefühl, dass die Zusammenarbeit klappen könnte. Ann-Kathrin hat bereits einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften, ihr Schwerpunkt im Informatikstudium ist Data Science. Hannahs Gebiet sind Software Systems. Die beiden suchen nach einem Thema, das sie inhaltlich herausfordert und zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt.
Bei Lorenz Hilty bleiben sie stehen. Sie kennen den Informatik-Professor von Vorlesungen. Dabei ist auch Matthias Huss, UZH-Ökonom, der zu Ernährungssystemen forscht und lange im Bereich Nachhaltigkeit mit Lorenz Hilty zusammengearbeitet hat. Huss hat gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Brander vor einigen Jahren ein Forschungsprogramm initiiert, das sich mit Ernteverlusten in Sub-Sahara-Afrika befasst.
Hilty und Huss erklären den Studierenden das Thema: Inhaltlich geht es um Ernährungsfragen und Erntekrisen in Afrika. Die Studierenden sollen ein Tool entwickeln, mit dem man Kommunikationswege simulieren kann. Die Daten dazu haben die UZH-Forschenden gemeinsam mit Forschenden der Sokoine University of Agriculture in Tansania erhoben. Hannah und Ann Kathrin sind ganz Ohr.
Bei Mais zum Beispiel betragen die Ernteverluste in Sub-Sahara-Afrika etwa 30 Prozent. Sie werden in der Regel durch Insektenbefall und Schimmel verursacht. Die Bauern verkaufen deshalb direkt nach der Ernte möglichst viel, denn sie wissen, dass bei Lagerung die Insekten womöglich alles vernichten. So kommt es bis zur nächsten Ernte immer wieder zu Nahrungsmittelengpässen, weil kein Mais mehr zur Verfügung steht. «Dabei gibt es eine einfache Möglichkeit, die Verluste auf nahezu null Prozent zu reduzieren», erklärt Huss den Studentinnen. «Wir haben mit hermetischen Erntesäcken gute Erfahrungen gemacht.» Die Hundert-Kilo-Säcke lassen sich so verschliessen, dass der Mais vor Insektenbefall und Schimmel geschützt wird. Unter Luftabschluss sterben die Insekten ab.
Zur Demonstration zeigt Huss den Studentinnen einen Erntesack. Diese Säcke werden in Tansania für umgerechnet knapp zwei Dollar verkauft. Aber nur drei Prozent der Kleinbauern nutzen bis jetzt die Säcke, obwohl der Preis fair ist. «Wir fanden heraus», so Huss, «dass mit den Säcken die schwere Ernährungsunsicherheit um 40 Prozent reduziert werden kann.» Die Frage ist nur, wie man die Menschen vor Ort am besten erreicht, um das Wissen um den Nutzen der Säcke zu verbreiten.
Lorenz Hilty (2. v. l.) und Matthias Huss (r.) diskutieren mit den Studierenden mögliche Modellsimulationen.
«Und hier kommen wir zurück zum Informatikprojekt», erklärt Hilty den beiden Studentinnen. Es geht darum, auf Basis der im Projekt erhobenen Daten in einem Modell zu simulieren, wie Ausbildung und Kommunikation zusammenwirken. Daten über die Verteilung der Säcke und die Ernteerfolge in einzelnen Regionen erhalten die Studierenden aus Tansania. Ebenso bekommen sie Informationen über die vor Ort üblichen Kommunikationsformen. Mund-zu-Mund-Propaganda, Nachbarschaftsgespräche, einflussreiche Dorfälteste oder Instruktorinnen und Instruktoren, die in die Dörfer geschickt werden, um die Funktion der Säcke zu erklären – all das spielt eine Rolle. Das von den Studierenden zu entwickelnde Modell soll simulieren, wie sich Information in diesem System ausbreitet und berechnen, welche Interventionen im jeweils betrachteten Gebiet am besten wirken.
Hannah und Ann-Kathrin begeistert die Idee, in einem Masterprojekt etwas zur Verbesserung der Ernährungssituation beitragen zu können. Später stösst auch Informatikstudent Joël Inglin zur Gruppe, und so wird aus dem Zweiergespann ein Trio.
Zwei Jahre später: Wir treffen im Herbstsemester 2024 die drei – inzwischen mit dem Semesterpreis ausgezeichneten – Studierenden im Wissenszentrum für Nachhaltige Entwicklung* in Zürich. «Die Arbeitsatmosphäre hier ist gut, es gibt genug Platz und die Infrastruktur ist für Projektarbeiten perfekt», sagt Joël. «Ich erinnere mich, dass wir uns hier jeweils getroffen und viel Zeit in die Planung gesteckt haben, bevor wir das Simulationsmodell programmierten», erzählt Hannah. «Dank des präzisen Zeitplans und der durchdachten Arbeitsteilung haben wir uns nicht verzettelt und das Ziel im Auge behalten.»
Lorenz Hilty, unterdessen emeritiert, empfahl den Studierenden, sich als Grundlage für die Entwicklung ihres Simulationsmodells auf eine Software zu stützen, die ein Masterstudent zuvor entwickelt hatte. «Diesen Code mussten wir zuerst einmal nachvollziehen», erzählt Joël.
«Den Semesterpreis erhielten die drei Studierenden, weil sie mit einer besonders komplexen Ausgangslage zurechtkamen und im Team sehr gut durchdachte und innovative Lösungen fanden», sagt Hilty. Um das Vorgängermodell zielführend weiterentwickeln zu können, mussten sie seine Stärken und Schwächen genau analysieren. Gleichzeitig galt es herauszufinden, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit die Forschenden in Tansania das Modell auch nutzen können. In der Praxis seien derart komplexe Ausgangssituationen der Normalfall, so Hilty. «In Software-Projekten muss man immer genau abwägen, was wünschbar, technisch möglich und mit den vorhandenen Ressourcen machbar ist. Damit die Studierenden dies trainieren können, lege ich grossen Wert auf selbstständiges Arbeiten.»
Zu den vielschichtigen Herausforderungen, mit denen Studierende dabei konfrontiert sind, gehört zum Beispiel die Koordination im Team. «Je selbständiger die Studierenden in einem Gemeinschaftsprojekt arbeiten und je grösser ihre Gestaltungsspielräume sind, desto besser müssen sie untereinander kommunizieren», sagt Hilty.
Und wie haben die Studierenden ihre Teamarbeit erlebt? «Dank der spannenden Aufgabenstellung waren wir sehr motiviert und intensiv bei der Sache», bilanziert Ann-Kathrin Kübler. Wichtig sei es, sich Zeit zu nehmen für Diskussionen innerhalb der Gruppe und einen guten Umgang zu finden mit unterschiedlichen Arbeitsstilen. Das praktische Wissen von Matthias Huss habe ihnen geholfen, sagt Hannah Rohe, und führt aus: «Matthias Huss kennt die Verhältnisse vor Ort gut, dadurch bekam unsere Modellierung den nötigen detaillierten Realitätsbezug.» Auch Matthias Huss selbst ist zufrieden: Seine Kollegen an der Universität in Tansania arbeiten nun mit dem Tool und Huss hofft, dass in der Bevölkerung vor Ort bald mehr Erntesäcke in Umlauf kommen.
*Am Wissenszentrum für Nachhaltige Entwicklung ZKSD arbeiten die vier kantonalen Hochschulen (UZH, PH, ZHDK, ZHAW,) im Bereich Nachhaltigkeit interdisziplinär zusammen.