Storys aus Studium und Lehre

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Glänzende Leistungen verdienen besondere An­erkennung: Die UZH zeichnet heraus­ragende Arbeiten von Studierenden mit einem Semester­preis aus. Entdecken Sie, wie solche Arbeiten ent­stehen, welchen didaktischen Wert sie haben und welche Unter­stützung Dozierende dabei leisten.

Lernte, eine eigene Forschungs­perspektive zu finden und zu vertreten: Geschichts­studentin Vivianne Rhyner

Durch die Geschichte reisen

Wie Vogel­dünger in der Karibik Geschichte machte – das ist Thema einer Seminar­arbeit von Vivianne Rhyner. Die Geschichts­studentin beleuchtet darin die komplexen Wechsel­wirkungen zwischen Umwelt, Wirtschaft und Gesell­schaft.

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Navassa ist eine winzige Insel, die auf den meisten Karten der Karibik gar nicht ver­zeichnet ist. Aber im Jahr 1899 kam es dort zu einem Ereignis, das das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu ihren quasi-Kolonien auf ab­gelegenen Inseln nachhaltig veränderte. Bei einem gewalt­tätigen Aufstand von Arbeitern, die auf der Insel Guano-Dünger abbauten, kamen mehrere Auf­seher ums Leben. Der Aufstand auf der ab­gelegenen Insel wurde in der damaligen US-amerikanischen Öffent­lichkeit breit diskutiert und richtete ein Schlag­licht auf die sozialen Kosten der Minen­arbeit.

Denn Guano – ein nährstoff­reicher Dünger aus den Ex­krementen von Seevögeln und Fleder­mäusen – war eine wichtige Ressource. Seit Mitte 19. Jahrhundert hatte Guano einen regel­rechten Rush befeuert.

Auf Navassa kam es nicht ohne Grund zum Aufstand, wie Bachelor­studentin Vivianne Rhyner bei ihren Recherchen für ihre Seminar­arbeit herausfand, denn die Arbeits­bedingungen auf der Insel waren gesundheits­gefährdend und menschen­verachtend. «Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stieg die Nachfrage nach Dünger in den westlichen Ländern enorm an», erklärt Rhyner. Besonders grosse Vorkommen fanden sich auf den Inseln im Pazifik und in der Karibik, so auch auf Navassa. Welche historischen, sozialen und öko­nomischen Aus­wirkungen der grosse Bedarf an Dünger hatte, war die Forschungs­frage, die sie in ihrer Seminar­arbeit be­antworten wollte.

Originell und interdisziplinär

Auf das Thema gestossen war sie im Seminar «Mapping Pacific History» von Geschichts­dozent Jonas Rüegg. «Dünger aus Guano ist ein wichtiges Thema in der Geschichte des Pazifiks, da er eine der Ressourcen darstellt, um die sich Prozesse von Kolonisierung, Arbeits­migration und Umwelt­zerstörung in Ozeanien drehten», sagt Rüegg. «Als Vivianne für ihre Seminar­arbeit auf Navassa kam, wusste ich zuerst selbst nicht, wo das ist, doch die Geschichte der Insel ergänzt das Bild des Guano-Rushes im Pazifik. Vivianne hat das Thema ihrer Arbeit selbst gesetzt und gründlich recherchiert. Sie hat Primär- und Sekundär­quellen analysiert und sich kritisch mit der Dünger­nutzung aus wirtschaftlicher, sozialer und öko­logischer Perspektive auseinander­gesetzt» Für ihre besonders originelle, inter­disziplinäre Leistung habe Vivianne Rhyner den Semester­preis verdient, so Rüegg.

Insel besetzen

Bei ihrem Quellen­studium richtete Vivanne Rhyner den Fokus auf die Bericht­erstattung in den USA, die das Geschehen aus Sicht der damaligen Zeit beleuchtet. «Ich habe viel gelesen und schliesslich die Zeitungs­artikel als Primär­quellen ausgesucht», sagt die Geschichts­studentin. Die Texte beschrieben, wie 130 Arbeiter von der Navassa-Insel nach dem Aufstand fest­genommen und in die USA gebracht wurden. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass ehemalige Sklaven und andere Arbeiter auf der Karibikinsel, die ja eigentlich nicht zum Hoheits­gebiet der USA gehörten, auf der Insel arbeiten mussten?

«Der Grund liegt im Guano Islands Act von 1856» erklärt Rhyner. «Das Gesetz erlaubte es US-Bürgern, Inseln in inter­nationalen Gewässern zu besetzen, wenn diese Guano Lagerstätten aufwiesen». Das Anwalts­team der angeklagten Arbeiter focht damals die Verfassungs­mässigkeit des Guano Island Act an. Sie argumentierten, dass die Insel Navassa nicht zu den Vereinigten Staaten gehöre und die Arbeiter daher nicht nach amerikanischem Recht verurteilt werden dürften. Der Oberste Gerichtshof bestätigte jedoch die Gültigkeit des Gesetzes, wodurch der territoriale Anspruch der USA auf die Guano-Inseln bekräftigt und die Verurteilung der Arbeiter bestätigt wurde.

«An diesem Punkt sieht man deutlich die Ver­flechtung von Wirtschaft und Recht, die hier und anderswo die territoriale Expansion der USA vorantrieb», sagt Rhyner. Die Artikel vermittelten der Studentin zudem ein Bild davon, unter welch un­menschlichen Bedingungen die mehrheitlich nicht-weissen Arbeiter auf Navassa schuften mussten.

Vivianne Rhyner und Jonas Rüegg planen eine Reise in die Vergangenheit – unter der Ägide eines Guano-produzierenden Riesen­albatrosses.

Die eigene Reise planen

Aus den Quellen ergaben sich viele interessante Frage­stellungen. «Schliesslich muss man sich jedoch für bestimmte Primär­quellen entscheiden und den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen», sagt Rhyner. Die Vorgaben, worauf bei einer Seminar­arbeit in Geschichte zu achten ist, kannte sie: Länge der Arbeit, korrekte Zitier­weise und sauber durch­geführte Methodik. «Ich fühlte mich sicher im Umgang mit Quellen, Literatur und Recherche. Die Heraus­forderung bestand darin, eine geeignete Form zu finden, den Stoff so auf­zubereiten, dass es stimmig und wissen­schaftlich korrekt war», sagt Rhyner.

«Den Studierenden beim Verfassen ihrer Seminar­arbeiten möglichst grosse Freiheiten zu lassen, ist didaktisch durchaus gewollt», erklärt Jonas Rüegg. Ziel des Bachelor­studiums sei es, zu lernen, eigenständig mit Quellen zu arbeiten. «Das Quellen­studium ist ergebnisoffen – die Studierenden müssen sich also auf eine intel­lektuelle Reise mit unbekanntem Ziel begeben», so Rüegg. Diese Offenheit müsse man aushalten können. Und sich zugleich immer wieder vergewissern, welche weiteren Schritte ziel­führend sind, welche Aspekte man weiter vertiefen möchte, was man weg­lassen will und ob es nötig ist, die ursprüngliche Frage­stellung nachzu­justieren. «Ich ermuntere meine Studierenden eine Mind Map zu zeichnen, denn die visuelle Umsetzung bringt oftmals Erkenntnis­gewinn», erklärt der Geschichts­dozent. So habe Vivianne zum Beispiel die Insel gezeichnet, und dabei eine Vorstellung von der Grösse und den Bedingungen vor Ort bekommen. Das habe sie auch im Seminar den Mit­studierenden gezeigt und mit ihnen ihre Arbeit diskutiert.

Eine Seminar­arbeit sollte nicht im stillen Kämmerlein geplant werden, sagt Rüegg. Wichtig ist dem Geschichts­dozenten, dass sich die Studierenden unter­einander aus­tauschen – so wie es auch bei Vivianne Rhyner der Fall war. «Das hilft, die eigene Arbeit zu reflektieren und kreative Blockaden zu überwinden.»

Keine Angst vor Freiheit

Vivianne Rhyner hat beim Verfassen ihrer Seminar­arbeit gelernt, mit Freiheiten und Unsicherheit umzugehen. Unmittelbar nach der Fertig­stellung der Arbeit begann sie ein Praktikum beim Schweizer Konsulat in New York. «Eine meiner ersten Aufgaben bestand darin, eine Rede für den Botschafter zu verfassen, und ich hatte kaum Vorgaben. Die Erfahrungen beim Schreiben meiner Seminar­arbeit haben mir geholfen: Ich habe gelernt, selbst Prioritäten zu setzen und die Argumentation gut aufzubauen», sagt sie. Heute arbeitet sie hoch­motiviert an ihrem Master­abschluss in Inter­nationalen Beziehungen am Geneva Graduate Institute.

«Es war für mich ein starker Antrieb, mit meiner Masterarbeit etwas zum Wohl des Tieres beitragen zu können», sagt Natalie Miller-Collmann.

«Mir geht es um die Tiere»

Tiermedizin-Studentin Natalie Miller-Collmann bewies in ihrer Master­arbeit den Mut, sich in einer kontrovers diskutierten Forschungs­frage eigenständig zu positionieren. 

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«Die Möglichkeit, zur aktuellen Forschung in der Pferde­chirurgie bei­zutragen, hat mich während meiner Master­arbeit motiviert und mich auch über strenge Phasen hinweg getragen», sagt Natalie Miller-Collmann strahlend und krempelt die Ärmel ihres hell­blauen Overalls herunter. Die Semester­preisträgerin kommt gerade aus den Stallungen am Tierspital Zürich. Ihre beiden Betreuungs­personen Anton Fürst, Professor für Pferde­chirurgie, und Stefanie Ohlerth, Professorin für Bild­gebung, nehmen ebenfalls am Inter­view teil. Beide bescheinigen Natalie Miller-Collmann eine ausge­zeichnete Leistung. Ihre Arbeit wurde auch von der Fachwelt interessiert auf­genommen. An einer Tagung durfte sie die Ergebnisse über Hals­wirbel beim Pferd vor­stellen.

Resonanz in der Fachwelt

Die Resonanz war unter anderem deshalb so gross, weil über das Thema der Arbeit gerade viel dis­kutiert wird. Viele Expert/innen vertreten die Ansicht, dass die beiden letzten Pferde-Halswirbel C6 und C7, wenn sie von der Norm abweichen, als patho­logisch einzustufen seien und sprechen dann von einer «Malformation». Andere wiederum sehen die unter­schiedlichen ana­tomischen Variationen der beiden Wirbel eher als Teil der natürlichen Varia­bilität an. Sie argumentieren, dass es zahlreiche genetische und umwelt­bedingte Faktoren gebe, die die Wirbel­säulen­anatomie von Pferden be­einflussen können, leichte Variationen müssten daher nicht un­bedingt krank­haft sein.

«Die Grund­satz­frage, ob die Variation der Hals­wirbel eine ana­tomische oder patho­logische Variation ist, betrifft direkt den klinischen Alltag, denn patho­logisch verformte Wirbel müssten behandelt werden», sagt Anton Fürst. Und es gibt auch einen öko­nomischen Aspekt: Die Preise von Spring-, Reit- oder Zucht­pferden können schnell einmal 100’000 Franken über­steigen. Gelten die Hals­wirbel als deformiert, mindert das den öko­nomischen Wert des Tieres.

Das Tierwohl als Motivations­quelle

Bei der Vergabe von Master­arbeiten achtet Anton Fürst darauf, dass das Thema fachlich relevant, aber auch im Rahmen einer Master­arbeit zeitlich zu schaffen ist. «Weil wir angewandte Forschung betreiben, sind die Themen in der Regel nicht abstrakt, sondern betreffen Fragen, mit denen die Studierenden im klinischen Alltag un­mittelbar kon­frontiert sind.» Für ihre Motivation sei das enorm wichtig gewesen, sagt Natalie Miller-Collmann: «Mir geht es letztlich um die Tiere. Es war für mich ein starker Antrieb, mit meiner Master­arbeit etwas zum Wohl des Tieres beitragen zu können.»

Balance zwischen Eigen­ständigkeit und Begleitung

Anton Fürst riet seiner Studentin, zunächst ein kurzes in­haltliche Exposé zu verfassen, in der sie ihr Vorgehen be­schreiben sollte. «Auf diese Weise kann ich bei meinen Master­studierenden rechtzeitig inter­venieren, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Thema nicht richtig durch­dacht wurde». Die Erwartungen der Studierenden an die Betreuung seien sehr unter­schiedlich. Die einen fragten viel nach, seien unsicher. Andere versuchten, alles allein zu bewerk­stelligen. «Ich versuche, die richtige Balance zu halten zwischen Förderung von Eigen­ständigkeit und methodischer Unter­stützung», sagt Fürst. Ein Ziel sei es, das Selbst­vertrauen und die Problem­lösungs­fähigkeiten der Studierenden zu stärken. «Wichtig ist regel­mässiges Feedback und eine vertrauens­volle und offene Kommunikations­basis, die es den Studierenden ermöglicht, Fragen zu stellen und Heraus­forderungen zu besprechen und sie zugleich ermutigt, eigene Lösungs­ansätze zu finden.»

Natalie Miller-Collmann bewies besonders viel Eigen­ständig­keit. Aus eigenem Antrieb hinterfragte sie die derzeitige Schul­meinung zum Thema Wirbel­anatomie bei Pferden. «Ich habe sehr viel recherchiert, gelesen und dann gesehen, dass es zwar schon viele Publikationen zum Thema Halswirbel C6 und C7 gab, die eher der Deformations­theorie zustimmten. Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich all diese Studien in einer bestimmten Hinsicht einseitig waren: Es wurden immer nur kranke Pferde unter­sucht. Das brachte mich auf die Idee, auch die Wirbel­anatomie von gesunden Pferden statistisch auszuwerten.» Es hätte aber Mut gebraucht, einen neuen, eigen­ständigen Ansatz zu verfolgen, doch sie habe Zuspruch erfahren von Mit­studierenden und ihren Betreuenden, sagt Miller-Collmann.

Forschung nah am klinischen Alltag: Anton Fürst, Professor für Pferdechirurgie, und Natalie Miller-Collmann.

Natalie Collmann bewies besonders viel Eigen­ständigkeit. Aus eigenem Antrieb hinter­fragte sie die der­zeitige Schul­meinung zum Thema Wirbel­anatomie bei Pferden. «Ich habe sehr viel recherchiert, gelesen und dann gesehen, dass es zwar schon viel Publikationen zum Thema Halswirbel C6 und C7 gab, die eher der Deformations­theorie zu­stimmten. Mit der Zeit fiel mir auf, dass sich all diese Studien in einer be­stimmten Hinsicht einseitig waren: Es wurden immer nur kranke Pferde unter­sucht. Das brachte mich auf die Idee, auch die Wirbel­anatomie von gesunden Pferden statistisch aus­zuwerten.» Es hätte aber Mut gebraucht, einen neuen, eigen­ständigen Ansatz zu verfolgen, doch sie habe Zuspruch erfahren von Mit­studierenden und ihren Betreuenden, sagt Collmann.

Das Handwerk der Bildauswertung erlernt

Unter­stützt von Anton Fürst kontaktierte Natalie Collmann Tierärztinnen und -ärzte in der ganzen Schweiz, die den Allgemein­zustand der zum Verkauf stehenden Renn-, Spring- oder Zuchtpferden unter­suchen. Zu diesen standard­mässig durch­geführten soge­nannten Ankaufs­untersuchungen gehören auch Röntgen­aufnahmen der Halswirbel­säule. Die Tierärzt/innen stellten Collmann anonymisiertes Daten­material für ihre Arbeit zur Verfügung: So erhielt sie Röntgen­aufnahmen von 324 Pferde­hälsen mit der jeweiligen Anatomie von C6 und C7.

Um ihre Forschungs­frage zu be­antworten, konnte die Studentin die bildgebenden Ver­fahren an der Vetsuisse-Fakultät nutzen. «Jetzt begann die Detailarbeit», erzählt sie. Es ging darum, die Auf­nahmen zielführend zu inter­pretieren. Dazu er­arbeitete sie ein Schema, mit dem sie die Wirbel ver­gleichen konnte. «Ich habe die Röntgen­aufnahmen immer wieder angeschaut», erinnert sich Collmann rück­blickend. Man müsse sehr präzise arbeiten, um die Variation genau einzu­ordnen, zu kon­textualisieren und statistisch aus­zuwerten. «Im Laufe der Zeit wurde sie zur Expertin», lobt Stefanie Ohlerth.

Bildgebende Verfahren wie MRT (Magnet­resonanz­tomographie), Röntgen, Szintigrafie und CT (Computer­tomographie) sind am Tierspital vor­handen, auch für Gross­tiere. Sie spielen eine ent­scheidende Rolle in der veterinär­medizinischen Forschung, denn sie er­möglichen eine präzise Diagnostik und die detaillierte Unter­suchung von anatomischen Strukturen sowie von pathologischen Ver­änderungen bei Tieren, sagt Ohlerth. «Für Master­studierende in der Veterinär­medizin bedeutet dies eine gute Möglich­keit, sich mit modernen diagnostischen Methoden vertraut zu machen. Sie können lernen, wie man bild­gebende Verfahren anwendet, interpretiert und in die Forschung integriert». Diese Fähig­keiten seien nicht nur für die akademische Laufbahn von Bedeutung, sondern auch für die praktische An­wendung in klinischen Settings, sagt Ohlerth.

Neuen Fachterminus vorgeschlagen

Natalie Collmann liefert in ihrer Arbeit gute Argumente dafür, dass leichte Variationen der Pferde­halswirbel nicht unbedingt krank­haft sein müssen. Aufgrund ihrer Ergebnisse schlug sie eine neue Nomen­klatur der Halswirbel­variationen vor, die sich von der eindeutigen patho­logischen Sichtweise ver­abschiedet. Der neue Begriff Equine zerviko­thorakale Variation (ECTV) ordnet die Varianten des C7 und C6 als Variation ein und nicht als ein­deutig patho­logisch. ECTV könnte aufgrund von Zucht­selektion ent­standen sein. Ob diese Vermutung richtig ist, könnte eine Folge­studie mit einer Population von ur­sprünglichen Rassen mit kürzeren Hälsen zeigen.

Nathalie Collmann will Tierärztin werden. Das Studium habe sie dazu befähigt, eigen­ständig Wissen er­arbeiten zu können und auf dieser Grundlage verantwortungs­volle Ent­scheidungen zu treffen. Am Ende des Gesprächs schlüpft sie wieder in den blauen Overall und geht in die Stallungen. Dort benötigt ein Pferd eine sach­kundige Unter­suchung.

Rocco Bagutti (Mitte), flankiert von seinen Betreuern Ariane Wenger und Peter Ranacher.

Meilen sparen

Rocco Bagutti analysierte in seiner Master­arbeit das Reise­verhalten von Forschenden. Seine mit einem Semester­preis aus­gezeichnete Studie hilft dabei, Lösungen für die Reduktion von Emis­sionen aus Flug­reisen zu finden.

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Geographie­student Rocco Bagutti interes­siert sich für nach­haltige Mobilitäts­systeme. Ihm geht es darum, die negativen Umwelt­auswirkungen von Reisen zu mini­mieren. Deshalb schloss er sich im Frühjahrs­semester 2020 der «Air Miles Group» an, deren Mit­glieder die Flüge des Geographischen Instituts unter die Lupe nehmen, um sie so weit wie möglich zu reduzieren. Denn sie wissen um die schädlichen Emis­sionen, deren Folgen für den Klima­wandel und nicht zuletzt um die Aus­wirkungen auf die schmelzenden Gletscher, die gerade am Institut intensiv er­forscht werden.

Dort traf der junge Tessiner auf engagierte Mit­arbeitende: vom Professor über Assistierende bis hin zu Personen aus dem admini­strativen Bereich, die alle am gleichen Strang zogen. Die Air Miles Group nahm mit ihrem An­liegen damals an der UZH eine Pionier­rolle ein. Später wurde sie dafür am Dies academicus der UZH mit dem «Team-Effort-Preis» geehrt, weil sie seit 2017 in unzähligen Stunden Freiwilligen­arbeit die Flug­daten von Mit­arbeitenden und Gästen er­hoben und jährlich publiziert hat.

Ungehobener Datenschatz

Rocco Bagutti er­kannte in den Flug­reisedaten einen un­gehobenen Schatz, der, wissen­schaftlich ausgewertet, dem Institut detail­liertere Informationen liefern könnte. So schlug er vor, in seiner Master­arbeit diese Daten mit statistischen Methoden zu analysieren. Und noch etwas wollte er erfahren: Was waren die Beweg­gründe fürs Fliegen? Unter welchen Bedingungen waren die Mit­arbeitenden des Geographischen Instituts bereit, auf Flüge zu ver­zichten? Welche Alter­nativen nutzten sie?

Die Gruppe reagierte mit grosser Zu­stimmung auf Baguttis Vorschlag. Peter Ranacher, Ober­assistent am Geographischen Institut, ebenfalls Mitglied der Air Miles Group, bot an, die Master­arbeit wissen­schaftlich zu begleiten. Das Thema wurde auch von Geographie­professor Michael Zemp an­genommen. «Es hat mich enorm motiviert, etwas zu tun, was für das Geographische Institut von Interesse ist», sagt Rocco Bagutti.

Mit dem Kopf in den Wolken – wortwörtlich: Rocco Bagutti auf dem Dach des Geographischen Instituts am Standort Irchel.

Quantitative und qualitative Daten unter einem Hut

Bei der Planung seiner Arbeit ging Rocco Bagutti Schritt für Schritt vor. Zu­nächst wertete er die am Institut gesam­melten Flugdaten statistisch aus. Mit Hilfe eines geo­grafischen Informations­systems (GIS) visualisierte er die Flug­verkehrs­ströme in Form von Grafiken, er­stellte zeitliche und räumliche Mobilitäts­muster und kombinierte danach die Flug­daten mit den Er­gebnissen einer Online-Befragung aller wissen­schaftlichen Mit­arbeitenden des Geographischen Instituts.

Um heraus­zufinden, welches Potenzial ver­schiedene Reduktions­massnahmen haben, reichte ein einziger methodischer Zugang nicht. Rocco Bagutti bediente sich des­halb des sogenannten Multi Methoden-Ansatzes, der besonders anspruchs­voll ist, wie Betreuer Peter Ranacher betont. Das technische und daten­wissenschaftliche Know-How erwarb Rocco eigen­ständig, dabei suchte und fand er auch ausser­halb des Geographischen Instituts Unter­stützung. Ariane Wenger, Umwelt­wissenschaftlerin an der ETH Zürich, hatte sich in ihrer Dis­sertation im Zusammen­hang mit dem Flugreisen-Projekts der ETH Zürich, mit der Reduktion aka­demischer Flugreisen be­fasst. Auf Wengers Expertise konnte Rocco Bagutti zurück­greifen.  

Dynamik wissenschaftlicher Karrieren verstehen

Mit statis­tischen Verfahren erhielt Rocco ein genaues Bild davon, wie häufig wohin ge­flogen wird. Um er­gänzend dazu heraus­zufinden, welche Meinungen die Forschenden des Geographischen Instituts zur Reduktion von Flugreisen haben, führte er eine Mitarbeitenden­befragung durch. Er erhielt dadurch vertiefte Einblicke in die Dynamik wissen­schaftlicher Karrieren und er­kannte, wie wichtig inter­nationale Be­ziehungen in der akademischen Welt sind. «Nicht nur zur Durchführung von Forschungs­projekten sind Reisen nötig, sondern zum Beispiel auch fürs Net­working an Kongressen», sagt er. Unter anderem konnte er in seiner Studie zeigen, in welchen Fällen virtuelle Kommuni­kation bevorzugt wird und in welchen eher Treffen von Ort.

«Rocco Bagutti hat im Rahmen seiner Master­arbeit eine wissen­schaftliche Studie er­stellt, die sehr hohen An­sprüchen gerecht wird und auch länger­fristig von hohem praktischen Wert ist», sagt Betreuer Peter Ranacher. «Wer eine Master­arbeit so um­sichtig plant, so präzise durch­führt und so professionell aus­wertet, hat einen Semester­preis auf jeden Fall verdient», sagt er.

«Für die Reduktion der Flug­reisen an der UZH war Roccos Studie von grossem Nutzen», sagt Ranacher. Die Studie diente einer­seits als Grund­lage für die Dokumentation der Gründe für Flugreisen am Geographischen Institut und half anderer­seits der UZH dabei, Lösungen zu finden, wie Flug­reisen reduziert werden können, ohne Forschungs­projekte und wissen­schaftlichen Karrieren zu be­einträchtigen. Dank ihrer Veröffent­lichung erbrachte die Studie zudem einen wertvollen Beitrag zur wissen­schaftlichen Literatur. Die Flugreisen am Geographischen Institut und die daraus ent­standenen Emissionen haben sich in den letzten Jahren deutlich reduziert, wie aus den jährlichen Berichten hervor­geht. So flogen Instituts­angehörige im Jahr 2023 um 30 Prozent weniger als in der Referenz­periode 2017-2019.

Bis 2024 war Rocco Bagutti Mitglied der Sustainability Task Force am Geographischen Institut. In­zwischen hat er sein Studium abge­schlossen und arbeitet beim Bundes­amt für Strassen.

Immundefekten auf der Spur: Medizinstudentin Marlene Münger (links) und Jana Pachlopnik, Professorin für Pädiatrische Immunologie (rechts), im neuen Forschungszentrum für das Kind am Universitäts-Kinderspital.

Schneller zur Diagnose

Medizin­studentin Marlene Münger widmete sich in ihrer Master­arbeit der Diagnose an­geborener Immun­defekte. Dabei konnte sie Krankheits­symptome be­stimmten Genen zu­ordnen. 

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Kinder mit einem an­geborenen Immun­defekt sind nicht in der Lage, sich aus­reichend gegen Krankheits­erreger zu wehren. Bei manchen Kindern sind die Aus­wirkungen so schwer­wiegend, dass sie bereits in den ersten Lebens­monaten an heftigen Infektionen leiden. Be­handelnde Ärztinnen und Ärzte haben häufig Schwierig­keiten, solche angeborenen Immun­defekte zu erkennen, ähneln die Symptome doch oft gewöhnlichen Infekten. Für die Diagnose er­schwerend kommt hinzu, dass es sehr viele ver­schiedene Arten von angeborenen genetisch bedingten Immun­defekten gibt, die sich in ihren klinischen Erscheinungs­bildern und der Schwere der Symptome stark unter­scheiden.

Medizin­studentin Marlene Münger kennt diese Proble­matik. Während ihres Studiums ent­wickelte sie ein aus­geprägtes Interesse für das menschliche Immun­system. «Mich hat erstaunt, wie hoch­komplex es ist und wie em­pfindlich es auf genetische Fehler reagiert», sagt sie. Noch sei nicht genau erforscht, wie die Wechsel­wirkungen zwischen Immun­zellen zu ver­stehen sind und warum das Immun­system bei Defekten fälschlicher­weise körper­eigene Zellen angreife. «Ich wollte deshalb meine Master­arbeit diesem Thema widmen», erklärt sie.

In Jana Pachlopnik Schmid, Professorin für pädiatrische Immuno­logie an der UZH, fand Marlene Münger eine geeignete Be­treuerin. Sie verfolgt in ihrer Forschung unter anderem das Ziel, die Diagnose von an­geborenen Immun­defekten zu er­leichtern. Als Marlene Münger sich bei ihr meldete und um die Be­treuung ihrer Master­arbeit an­fragte, stiess sie auf offene Ohren.

Unterstützende Atmosphäre

«Ich möchte meine Studierenden dazu anregen, neugierig zu sein, neue Ideen zu ent­wickeln und selbständig Lösungen zu finden. Eine unter­stützende Atmos­phäre zu schaffen, ist mir sehr wichtig», sagt Pachlopnik. Und Marlene Münger erzählt: «Ich habe mich dank Jana als Forscherin gefühlt und ganz ver­gessen, dass ich ja noch Studentin bin».

Während ihrer Recherche­arbeit am Kinder­spital lernte sie das Immunologie-Team kennen und erfuhr nebenbei auch viel vom klinischen Alltag und der Arbeit mit den kranken Kindern. «Diese Erfahrungen haben mich sehr motiviert», erzählt sie. «Ich war Teil eines Teams, das sich tag­täglich dafür ein­setzt, dass kranken Kindern geholfen wird.»

Ihre Master­arbeit be­inhaltete eine umfassende Literatur­recherche. Unter mehr als 1500 wissenschaftlichen Studien wählte sie diejenigen aus, die Krankheits­symptome be­schreiben und angeborene Immun­defekte identi­fizieren. Danach gruppierte sie die Krankheits­symptome und ordnete sie den Gen­defekten zu.

«Ich war Teil eines Teams, das tagtäglich kranken Kindern geholfen hat», sagt die Medizin-Studentin Marlene Müller.

Diskussionen bei brütender Hitze

Um die 1500 wissen­schaftlichen Artikel zu Immun­defekten zu sichten, organisierte Marlene Münger ein kleines Team von fünf Medizin­studierenden, die sich noch am Anfang ihres Studiums be­fanden und sie bei der Recherche unter­stützten. Die Master­studentin trug dabei eine besondere Ver­antwortung, musste sie doch ihre Hilfs­assistierenden in die Arbeit ein­führen, aber auch darauf be­dacht sein, dass die wissen­schaftlichen Artikel korrekt verstanden und aus­gewertet wurden. «Ich erinnere mich, dass wir im Sommer wochen­lang in einem heissen Raum im Kinder­spital sassen und die Ergebnisse dis­kutierten», erzählt Münger.

Als Verantwortliche leitete sie die Medizin­studierenden an und musste auch selb­ständig die Ent­scheidung treffen, welche Publikationen für die Weiter­verarbeitung in Frage kamen und welche nicht. Bei Unsicher­heiten konnte sie sich stets auf die Expertise ihrer Professorin ver­lassen. Am Ende konzentrierten sie sich auf 700 Publikationen. «Diese haben wir analysiert und dabei das Vier-Augen-Prinzip an­gewendet», berichtet Marlene Münger. Die gesamte Recherche­arbeit nahm etwa neun Monate in Anspruch. Dank einer bereits etablierten Web­anwendung stellte sie an­schliessend die aus der Recherche gewonnenen Er­kenntnisse systematisch zusammen.

Zusammenhänge aufgedeckt

Aus der Analyse der Daten ergaben sich neue Er­kenntnisse: Bei Kindern mit Symptomen wie wieder­kehrenden Infektionen, Hautaus­schlägen und Auto­immun­reaktionen lagen genetische Defekte in den Genen ARPC1B und WAS vor. Anders verhält es sich beispiels­weise bei wieder­kehrendem Fieber und Arthritis: Hier sind Mutationen im Gen NOD2 für die Symptome ver­antwortlich. In ihrer Master­arbeit doku­mentierte die Studentin noch zahl­reiche weitere dieser Genmuster.

Diese Erkennt­nisse könnte es Ärztinnen und Ärzte künftig er­leichtern, schneller zu einer gezielten Diagnose zu gelangen und die richtigen Behandlungs­möglichkeiten zu erkennen und ein­zuleiten, sagt Jana Pachlopnik. Marlene Münger habe diese Master­arbeit mit grosser Sorgfalt und mit ihrem ausge­prägtem Organisations­talent gemeistert, dafür habe sie den Semester­preis hoch verdient. Eine zusätzliche An­erkennung für die Studentin ist die geplante Publikation ihrer Arbeit in einem wissen­schaftlichen Fach­journal.

Marlene Münger will weiterhin in der Wissen­schaft und im Team der Immuno­logen am Kinderspital bleiben. Sie möchte ihre Arbeit fort­setzen und hat bereits die Dissertation in Angriff genommen, um die Erkenntnisse ihrer Master­arbeit weiter zu vertiefen. «Die Erforschung angeborener Immun­defekte ist ein fort­laufender Prozess, der noch viel Forschungs­arbeit erfordert», so Münger. Aber mit den immer besseren Diagnose­möglichkeiten gebe es heute für die be­troffenen Kinder mehr Hoffnung als je zuvor.

Subjektiv empfundene Religiosität wissenschaftlich zu erfassen – dieser Herausforderung hat sich Alexandra Probst in ihrer Seminararbeit bravourös gestellt.

Marienbilder zwischen Tradition und Wandel 

Die katholische Frauen­bewegung «Maria 1.0» plädiert für eine tradi­tionelle, religiös geprägte Rolle der Frau in der Kirche. Alexandra Probst hat die Bewegung in einer Seminar­arbeit analysiert und dafür einen Semester­preis erhalten.

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Die römisch-katholische Kirche steht in der Kritik: Vielen ist sie zu traditionell, zu männer­­dominiert oder zu hierarchisch organisiert. Katholische Frauen der Bewegung «Maria 2.0» fordern daher seit einiger Zeit um­fassende Reformen, ins­besondere in Bezug auf die Gleich­­berechtigung von Frauen in der Kirche.

Maria braucht kein Update

Dagegen stemmt sich die Initiative «Maria 1.0». Ihr Motto: «Maria braucht kein Update». Sie wurde 2019 von katholischen Frauen als Re­aktion auf die Be­wegung Maria 2.0 ge­gründet und vertritt eine Rück­­besinnung auf traditionelle Werte und ver­mittelt ein traditionelles Marien­bild. So fordern die Mit­glieder unter anderem eine stärkere Betonung der Mutter­­schaft und des häuslichen Lebens und lehnen die Öffnung des Priester­­amts für Frauen ab. Alexandra Probst erfuhr aus den Medien von Maria 1.0: Ihr Interesse an der – dem Zeitgeist entgegen­­setzten – Bewegung war geweckt.

Wer «Maria 1.0» googelt, findet eine moderne, professionell ge­staltete mehr­sprachige Website. «Die Bewegung hat etwa 4000 Mit­glieder und ist sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz aktiv. Sie spricht eher junge Frauen an und wird auch von jüngeren Frauen ge­­tragen», sagt Alexandra Probst. 

Als sie im Frühjahr 2023 das Seminar «Diskurs, Praxis und Religions­­wissenschaft» von Professor Rafael Walthert besuchte, ent­schied sie sich, ihre Seminar­arbeit über Maria 1.0 zu schreiben. Sie wollte diese Be­wegung mit dem im Seminar be­handelten Konzept der Agency in Ver­bindung setzen. Dieses verortet Handlungen von Individuen in einem strukturierten sozialen und religiösen Rahmen, berück­sichtigt aber gleich­­zeitig auch die individuellen Fähig­keiten, diesen Rahmen zu be­­einflussen und zu ver­ändern.

Aneignung und Neuinterpretation

Konkret ging Alexandra Probst der Frage nach, ob und wie Frauen, die sich der traditions­­reichen Welt der katholischen Kirche verbunden fühlen, Agency haben. Dabei wollte sie ein erweitertes Ver­ständnis von eigen­­verantwortlichem Handeln innerhalb repressiver oder autoritärer Strukturen an­wenden und die schlichte Alter­native zwischen anti­­autoritärer Kritik und unterwürfigem, affirmativem Verhalten auf­­sprengen, um den Nuancen da­zwischen gerecht zu werden.

In Absprache mit Rafael Walthert entschied sie sich, qualitative Inter­­views mit zwei Frauen der Bewegung Maria 1.0 zu führen, um heraus­­zufinden, was sie moti­viert, wie sie sich als Katholik­innen verstehen und wie sie ihre Rolle in der römisch-katholischen Kirche sehen.

«Als Alexandra mir das Thema vorschlug, stellten wir fest, dass es zur Bewegung Maria 1.0 keine wissen­­schaftlichen Publikationen gab», erzählt Rafael Walthert. Alexandra Probst sagt: «Ein Thema zu wählen, zu dem es noch keine Literatur gab, hat ein wenig Courage ge­­braucht. Es war eine Heraus­forderung, die mich an­gespornt hat.» Alexandra Probst habe Pionier­­arbeit geleistet, sagt Walthert.

Alexandra Probst und Rafael Walthert, Professor für Religionswissenschaft, im gotischen Querschiff des Zürcher Fraumünsters.

Kirchliche Strukturen hinterfragen

«Die Agency-Theorie war für mich ein Werk­zeug, mit dem ich die Aus­sagen der Interviews einordnen konnte», erklärt Probst. Durch das Codieren der Gespräche konnte sie Kategorien heraus­arbeiten wie: Verhältnis zur Kirche, Rollen­aufteilung zwischen Mann und Frau oder Regulierung des All­tags. Ihr Ergebnis: Die beiden Frauen wollen Änderungen an­stossen, auch wenn sie ein traditionelles Kon­zept verfolgen.

«Beide sind tief­religiös, diese Grund­haltung gibt ihnen Kraft und Legi­timation, Ver­änderungen ein­zufordern», sagt Probst. Sie leben zwar nach den Regeln, üben aber auch Kritik, ins­besondere an der aktuellen bischöflichen Aus­legung kirch­licher Regeln. Damit wider­sprechen sie der gängigen Auf­fassung, traditionell religiös lebende Frauen seien prinzipiell kon­formistisch und sich in jeder Hinsicht obrig­keitshörig.

Die Interviews offen zu führen und zu versuchen, die Lebens­welt der Interview­partnerinnen zu verstehen, ohne sich damit zu identifizieren oder über darüber zu urteilen, habe ein hohes Mass an Selbst­reflexion erfordert, sagt Probst. «Ich wurde kon­frontiert mit einer Lebens­welt und Über­zeugungen, die mir fremd waren. Gleich­zeitig fand ich es faszinierend, mich mit dieser tief empfundenen Religiosität auseinander­zusetzen.»

Wissenschaftliche Pionierarbeit

Walthert betont die grosse Leistung, eine subjektive religiöse Erfahrungs­welt in wissen­schaftlichen Kategorien zu beschreiben. Diese Übersetzungs­leistung sei Alexandra Probst hervor­ragend gelungen. Sie habe eine subtile Interview­technik an­gewendet und sich mit einem komplexen soziologischen Theorie­ansatz vertraut gemacht.

Für die Beurteilung sei es ihm wichtig, dass die Arbeiten methodisch sauber durch­geführt und auf dem Funda­ment einer durch­dachten Theorie stehen, so dass sie auch in einem wissen­schaftlichen Journal er­scheinen könnten. Um Studierende beim Schreiben ihrer Arbeit zu unter­stützen, bietet Walthert ihnen regel­mässige Gespräche an. «Die Hemm­schwelle, mich anzu­sprechen, ist bei uns niedrig, da ich meine Studierenden meist schon aus Pro­seminaren kenne und die über­schaubare Grösse der Theologischen und Religions­wissen­schaftlichen Fakultät eine gewisse Vertrautheit gewähr­leistet.»

Alexandra Probst arbeitet inzwischen als Assistentin am Religions­wissen­schaftlichen Seminar und freut sich, ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Studierende weiter­geben zu können.

Leander Etter mit seinem Betreuer Tilmann Altwicker, Professor für Legal Data Science und Öffentliches Recht.

Juristische Detektivarbeit

In seiner Master­arbeit wies Jus-Student Leander Etter per Daten­analyse nach, wie stark sich Sprach­barrieren auf die Arbeit des Schweizer Bundes­gerichts auswirken. 

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Das Schweizer Bundesgericht gibt jährlich zwischen 10’000 und 15’000 Entscheide heraus, im Jahr 2023 waren es etwa 13’000. Jus-Student Leander Etter verglich in seiner Master­arbeit rund 100’000 Bundes­gerichts­entscheide im Hinblick auf die Landes­sprache, in der sie verfasst wurden. Dabei be­leuchtete er Aspekte der juristischen Praxis auf Bundes­ebene, die bisher in dieser Deutlichkeit nicht bekannt waren.

Ganz besonders interes­sierte Etter die Frage, in welcher Sprache die Rechts­urteile und die Literatur verfasst sind, die in den Bundes­gerichts­urteilen zitiert werden. Zitate sind ein wichtiger Bestandteil der Urteils­begründung und dienen dazu, die rechtliche Argumentation zu unter­mauern, Präzedenzfälle zu berück­sichtigen und das Urteil im Kontext der bestehenden Rechts­prechung und Literatur zu verorten. Sein Betreuer war Tilmann Altwicker, Rechts­professor am Lehrstuhl für Legal Data Science und Öffentliches Recht. «Leander Etter ging akribisch wie ein Detektiv vor. Mit analytischer Präzision beleuchtete er Zusammen­hänge, die bisher so nicht dokumentiert wurden», sagt Altwicker.

Landes­sprachen im Fokus

In der Schweiz werden Bundes­gerichts­entscheide in der Regel in einer der vier Landes­sprachen verfasst: Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch. Die Wahl der Sprache hängt davon ab, in welchem Teil der Schweiz der Fall verhandelt wird, oder in welcher Sprache die Parteien ihre Eingaben getätigt haben. Etwa zwei Drittel aller Entscheide des Schweizer­ischen Bundes­gerichts werden auf Deutsch verfasst, da die Verfahren ihren Ursprung in der Deutsch­schweiz haben. Entscheide in Französisch und Italienisch haben ihren Ursprung in den ent­sprechenden Sprachregionen. Räto­romanisch geschriebene Ent­scheide sind selten und kommen nur in sehr spezifischen Fällen vor.

Leander Etter ist im räto­romanischen Sprachraum auf­gewachsen und spricht Räto­romanisch. Das habe ihn für sprachliche Belange sensi­bilisiert, sagt er. «Nach der Matur wusste ich zunächst nicht, was ich studieren sollte, ich schwankte zwischen Jus und Informatik und entschied mich schliesslich für Jus, weil ich auch an Sprache interes­siert war.» In seiner Master­arbeit im Bereich Legal Data Science flossen schliesslich all seine Interessen zusammen – jene am Recht, an der Informatik und an der Sprache. Die Aus­wirkungen der Landes­sprache auf die Recht­sprechung wurde bisher nur selten umfassend analysiert. «Ich fand dieses Thema besonders spannend und war froh, dass Professor Altwicker es unter­stützte», erzählt Etter. Thema und Frage­stellung der Arbeit schlug er selbst vor. «Leander Etter hat eine originelle Forschungs­frage gefunden, aber auch ein gutes Gespür dafür gezeigt, was man zeitlich im Rahmen einer Master­arbeit stemmen kann», sagt Altwicker.

Semesterpreisträger Leander Etter in der Giacometti-Bibliothek der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, rechts im Bild die Büste des Zürcher Rechtsprofessors Zaccaria Giacometti.

Verborgene Muster erkennen

Die Forschungs­richtung «Legal Data Science» verfolgt das Ziel, mit dem Einsatz quantitativer Methoden Strukturen oder Muster in den Rechts­daten aufzufinden und neue Zusammen­hänge zu erkennen. «Meine Studierenden entwickeln automatisierte Verfahren, um Gerichts­entscheide zu klassifizieren, zu vergleichen oder sogar Vorhersagen über die Wahr­scheinlichkeit von Urteilen zu treffen», erklärt Altwicker. Die nötigen Methoden der Daten­analyse erarbeitete sich Etter selbst – «das ist einer der Gründe für die Preis­würdigkeit dieser Arbeit», sagt der Rechts­professor.

Bundes­gerichts­entscheide haben einen Umfang von 10 bis zu 40 Seiten. Erst seit dem Jahr 2000 werden sie digitalisiert. Etter konnte bei seiner Analyse auf ein etwa 100'000 Bundes­gerichts­entscheide umfassendes Datenset des ehemaligen Doktoranden Florian Geering zurück­greifen.

Brisantes Ergebnis

Etter teilte die Entscheide des Bundes­gerichts nach Sprachen ein und analysierte die Zitate mit daten­wissenschaftlichen und statistischen Methoden. «Das Ergebnis ist brisant», sagt Altwicker. «Die Arbeit wirft ein kritisches Licht auf die Praxis des Bundesgerichts, indem sie zeigt, dass bei der Urteils­begründung die Sprach­grenzen selten überschritten werden. Indem das Bundes­gericht bei der Urteils­begründung in einzelnen Sprach­räumen verharrt, schmälert es seine argumentative Basis. Es wäre für die Qualität der Rechts­praxis besser, wenn das Bundes­gericht für mehr Durchlässigkeit zwischen den Sprach­räumen sorgen würde».

Neue Diskurse anstossen

Leander Etter arbeitete bereits vor seiner Master­arbeit als Hilfs­assistent an Altwickers Lehrstuhl. Er war eingebunden in ein Team aus den Bereichen Jus, Informatik und Statistik und erfuhr dabei von allen Seiten viel Unter­stützung. «Es ist diese inter­disziplinäre Zusammen­arbeit, die Legal Data Science so spannend macht», sagt er. Kurze Besprechungen über den Stand der Arbeit mit Tilmann Altwicker hätten ihm die nötige Sicherheit vermittelt, auf dem richtigen Weg zu sein.

«Als die ersten Ergebnisse sichtbar wurden, motivierte mich die Aussicht, mit meiner Arbeit einen echten Beitrag zum juristischen Diskurs leisten zu können», sagt Etter. Er hätte zudem gelernt, juristische Frage­stellungen mit modernen Daten­analyse­techniken zu verbinden. Für die Doktor­arbeit, die er nach der Rechts­anwaltsprüfung plane, sei das eine gute Grund­lage. In den letzten Jahren habe die Digitali­sierung und die zunehmende Verfügbarkeit von grossen Datenmengen die Rechts­wissen­schaften stark beeinflusst, sagt Etter. «Dadurch eröffnen sich viele neue Forschungs­fragen, zu deren Klärung ich in Zukunft gern etwas beitragen würde».

«Die spannende Aufgaben­stellung hat uns motiviert», sagen die Informatikstudierenden Hannah Rohe, Ann-Kathrin Kübler und Joël Inglin (von links), die für ihr Master­projekt aus­gezeichnet wurden.

Mehr Mais für Bauern in Afrika

Drei Informatik­studierende entwickelten im Rahmen ihres Master­projekts eine Softwarelösung, die der Bauernschaft in Sub-Sahara-Afrika helfen könnte, ihre Ernte­verluste zu reduzieren. 

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Springen wir ins Herbst­semester 2022: Am Institut für Informatik findet ein Markt statt. Es ist ein spezieller Markt, denn hier stellen Dozierende Themen für Master­projekte vor. Informatik Master­projekte sind anwendungs­orientiert ausgerichtet und sollen im Team von zwei bis fünf Studierenden in maximal einem Jahr umgesetzt werden. «In der Software-Entwicklung beruht alles auf Teamarbeit. Es ist empirisch erwiesen, dass Projekte häufiger an Kommunikations­problemen als an technischen Heraus­forderungen scheitern. Gerade deshalb ist das Master­projekt als Teamarbeit so wichtig», sagt Informatik-Professor Lorenz Hilty. «Die Studierenden sollen lernen, mit den typischen Heraus­forderungen umzugehen, die auch in der Berufs­praxis auf sie zukommen werden: Verständigungs­probleme, schwieriges Projekt­management, komplexe Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Akteuren.»

Zurück zum Markt: Ihr Thema können die Studierenden selbst aus­suchen. Die Dozierenden stellen die Aufgabe in einem kurzen Pitch vor. Ann-Kathrin Kübler und Hannah Rohe – beide im Masterstudium – suchen nach einem Thema für ihre Projekt­arbeit. Beide kennen sich flüchtig, haben aber das Gefühl, dass die Zusammen­arbeit klappen könnte. Ann-Kathrin hat bereits einen Bachelor in Wirtschafts­wissenschaften, ihr Schwerpunkt im Informatik­studium ist Data Science. Hannahs Gebiet sind Software Systems. Die beiden suchen nach einem Thema, das sie inhaltlich heraus­fordert und zu einer nachhaltigen Entwicklung beiträgt.

Nützliche Plastiksäcke

Bei Lorenz Hilty bleiben sie stehen. Sie kennen den Informatik-Professor von Vorlesungen. Dabei ist auch Matthias Huss, UZH-Ökonom, der zu Ernährungs­­systemen forscht und lange im Bereich Nach­haltig­keit mit Lorenz Hilty zusammen­­gearbeitet hat. Huss hat gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Brander vor einigen Jahren ein Forschungs­­programm initiiert, das sich mit Ernte­­verlusten in Sub-Sahara-Afrika befasst.

Hilty und Huss erklären den Studierenden das Thema: Inhaltlich geht es um Ernährungs­­fragen und Erntekrisen in Afrika. Die Studierenden sollen ein Tool entwickeln, mit dem man Kommunikations­­wege simulieren kann. Die Daten dazu haben die UZH-Forschenden gemeinsam mit Forschenden der Sokoine University of Agriculture in Tansania erhoben. Hannah und Ann Kathrin sind ganz Ohr.

Bei Mais zum Beispiel betragen die Ernte­­verluste in Sub-Sahara-Afrika etwa 30 Prozent. Sie werden in der Regel durch Insekten­­befall und Schimmel verursacht. Die Bauern verkaufen deshalb direkt nach der Ernte möglichst viel, denn sie wissen, dass bei Lagerung die Insekten womöglich alles vernichten. So kommt es bis zur nächsten Ernte immer wieder zu Nahrungs­­mittel­­engpässen, weil kein Mais mehr zur Verfügung steht. «Dabei gibt es eine einfache Möglich­keit, die Verluste auf nahezu null Prozent zu reduzieren», erklärt Huss den Student­innen. «Wir haben mit herme­tischen Ernte­säcken gute Erfahrungen gemacht.» Die Hundert-Kilo-Säcke lassen sich so ver­schliessen, dass der Mais vor Insekten­befall und Schimmel geschützt wird. Unter Luft­abschluss sterben die Insekten ab.

Zur Demonstration zeigt Huss den Student­innen einen Erntesack. Diese Säcke werden in Tansania für umgerechnet knapp zwei Dollar verkauft. Aber nur drei Prozent der Klein­­bauern nutzen bis jetzt die Säcke, obwohl der Preis fair ist. «Wir fanden heraus», so Huss, «dass mit den Säcken die schwere Ernährungs­­unsicherheit um 40 Prozent reduziert werden kann.» Die Frage ist nur, wie man die Menschen vor Ort am besten erreicht, um das Wissen um den Nutzen der Säcke zu verbreiten.

Lorenz Hilty (2. v. l.) und Matthias Huss (r.) diskutieren mit den Studierenden mögliche Modell­simulationen.

Kommunikationswege modellieren

«Und hier kommen wir zurück zum Informatik­projekt», erklärt Hilty den beiden Student­innen. Es geht darum, auf Basis der im Projekt erhobenen Daten in einem Modell zu simulieren, wie Aus­bildung und Kommunikation zusammen­wirken. Daten über die Verteilung der Säcke und die Ernteerfolge in einzelnen Regionen erhalten die Studierenden aus Tansania. Ebenso bekommen sie Informationen über die vor Ort üblichen Kommunikations­formen. Mund-zu-Mund-Propaganda, Nachbarschafts­gespräche, einflussreiche Dorfälteste oder Instruktorinnen und Instruktoren, die in die Dörfer geschickt werden, um die Funktion der Säcke zu erklären – all das spielt eine Rolle. Das von den Studierenden zu ent­wickelnde Modell soll simulieren, wie sich Information in diesem System aus­breitet und berechnen, welche Inter­ventionen im jeweils betrachteten Gebiet am besten wirken.

Hannah und Ann-Kathrin begeistert die Idee, in einem Masterprojekt etwas zur Ver­besserung der Ernährungs­situation beitragen zu können. Später stösst auch Informatik­student Joël Inglin zur Gruppe, und so wird aus dem Zweier­gespann ein Trio.

Gute Planung als Erfolgsrezept

Zwei Jahre später: Wir treffen im Herbst­semester 2024 die drei – inzwischen mit dem Semester­preis ausge­zeichneten – Studierenden im Wissens­zentrum für Nachhaltige Entwicklung* in Zürich. «Die Arbeits­atmosphäre hier ist gut, es gibt genug Platz und die Infrastruktur ist für Projekt­arbeiten perfekt», sagt Joël. «Ich erinnere mich, dass wir uns hier jeweils getroffen und viel Zeit in die Planung gesteckt haben, bevor wir das Simulations­modell programmierten», erzählt Hannah. «Dank des präzisen Zeitplans und der durch­dachten Arbeitsteilung haben wir uns nicht verzettelt und das Ziel im Auge behalten.»

Lorenz Hilty, unterdessen emeritiert, empfahl den Studierenden, sich als Grundlage für die Entwicklung ihres Simulations­modells auf eine Software zu stützen, die ein Master­student zuvor entwickelt hatte. «Diesen Code mussten wir zuerst einmal nach­vollziehen», erzählt Joël.

Offene Problemstellung

«Den Semester­preis erhielten die drei Studierenden, weil sie mit einer besonders komplexen Ausgangs­lage zurechtkamen und im Team sehr gut durch­dachte und innovative Lösungen fanden», sagt Hilty. Um das Vorgängermodell zielführend weiter­entwickeln zu können, mussten sie seine Stärken und Schwächen genau analysieren. Gleichzeitig galt es herauszufinden, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit die Forschenden in Tansania das Modell auch nutzen können. In der Praxis seien derart komplexe Ausgangs­situationen der Normalfall, so Hilty. «In Software-Projekten muss man immer genau abwägen, was wünschbar, technisch möglich und mit den vorhandenen Ressourcen machbar ist. Damit die Studierenden dies trainieren können, lege ich grossen Wert auf selbstständiges Arbeiten.»

Zu den viel­schichtigen Heraus­forderungen, mit denen Studierende dabei konfrontiert sind, gehört zum Beispiel die Koordination im Team. «Je selbständiger die Studierenden in einem Gemeinschafts­projekt arbeiten und je grösser ihre Gestaltungs­spielräume sind, desto besser müssen sie unter­einander kommunizieren», sagt Hilty.

Gestalten, was Bestand hat

Und wie haben die Studierenden ihre Teamarbeit erlebt? «Dank der spannenden Aufgaben­stellung waren wir sehr motiviert und intensiv bei der Sache», bilanziert Ann-Kathrin Kübler. Wichtig sei es, sich Zeit zu nehmen für Diskussionen innerhalb der Gruppe und einen guten Umgang zu finden mit unter­schiedlichen Arbeitsstilen. Das praktische Wissen von Matthias Huss habe ihnen geholfen, sagt Hannah Rohe, und führt aus: «Matthias Huss kennt die Verhältnisse vor Ort gut, dadurch bekam unsere Model­lierung den nötigen detaillierten Realitätsbezug.» Auch Matthias Huss selbst ist zufrieden: Seine Kollegen an der Universität in Tansania arbeiten nun mit dem Tool und Huss hofft, dass in der Bevölkerung vor Ort bald mehr Erntesäcke in Umlauf kommen.

*Am Wissens­zentrum für Nachhaltige Entwicklung ZKSD arbeiten die vier kantonalen Hoch­schulen (UZH, PH, ZHDK, ZHAW,) im Bereich Nach­haltigkeit interdisziplinär zusammen.

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