Die Präsidentin des Universitätsrats und der Rektor der UZH im Gespräch
Bildungsdirektorin Silvia Steiner und UZH-Rektor Michael Schaepman diskutieren im Interview über die Auswirkungen von generativer Künstlicher Intelligenz auf die Bildung, über internationale Zusammenarbeit in der Forschung, Redefreiheit und den Umzug von Kantons
Silvia Steiner: Das Projekt hat mir von Anfang an grosse Freude gemacht. Die UZH zeigt sich als grosszügige Gastgeberin. Ich bin beeindruckt, wie sich die UZH und die Kantonsschulen auf die gemeinsame Nutzung des Campus vorbereiten. Wir haben bereits eine Projektgruppe gegründet, die sich Gedanken dazu macht, wie dieses Miteinander für beide Seiten fruchtbar werden kann. Man spürt auf beiden Seiten den Willen, sich aufeinander einzulassen, gemeinsam Neues auszuprobieren und für alle Beteiligten das Beste herauszuholen.
Michael Schaepman: Ich erinnere mich noch, wie ich als Pfadfinder auf dem Irchel-Areal umherstreifte, damals, als es noch fast unbebaut war. Inzwischen ist hier der attraktivste und lebendigste Bildungscampus der Schweiz entstanden, und bald werden Mittelschülerinnen und -schüler noch mehr Leben aufs Gelände bringen. Viele von ihnen werden sich anstecken lassen von der Faszination für die Wissenschaft. Dieses Miteinander von gymnasialer und universitärer Bildung ist schweizweit einmalig. Wir freuen uns auf einen offenen, durchmischten Campus, der Raum bietet für gemeinsames Lernen, Lehren, Forschen und Ausprobieren – und allen Beteiligten frische Impulse vermittelt.
Steiner: Aus meiner Sicht liegt ein grosser Mehrwert dieser Lösung auch darin, dass sie den Dialog fördert. Es ist wichtig, dass die beiden Bildungsstufen gegenseitig ihre Anliegen und Sichtweisen kennen und verstehen. Das Projekt HSGYM sorgt seit 17 Jahren dafür, dass dieser Dialog kontinuierlich geführt wird. Der bevorstehende Umzug der Schulen auf den Irchel bewirkt, dass der Austausch noch intensiver geführt wird. Die Schulen und die Universität machen gemeinsame Erfahrungen, von denen unser ganzes Bildungssystem auch auf lange Sicht profitieren wird.
«Man spürt bei der UZH und den Kantonsschulen den Willen, gemeinsam Neues auszuprobieren.»
Schaepman: Früher wurde lexikalisches Wissen fast ausschliesslich in Büchern gespeichert und über Bücher vermittelt. Heute ist es jederzeit in vielfältigster Qualität im Internet verfügbar, und generative KI unterstützt uns bei der Erschliessung und Synthese dieses Wissens. So verlagert sich das Gewicht auf den Erwerb und die Förderung kognitiver Kompetenzen. Das ist eine ganz grosse Chance: Wir gewinnen mehr Spielraum für kreative Leistungen – die früher eher in Verbotszonen der Schule zum Tragen kamen, etwa beim Schreiben möglichst zweckdienlicher Spickzettel. Die Herausforderung besteht in der Zunahme sich immer schneller ändernder Informationen. Wir müssen lernen, sie sinnvoll zu dosieren und ihre Qualität richtig einzuschätzen.
Steiner: Ich glaube, dass wir mit der Einführung des kompetenzorientierten Unterrichts in den letzten Jahrzehnten dafür die richtigen Voraussetzungen geschaffen haben. Schülerinnen und Schüler sollen weniger vorgegebene Inhalte auswendig lernen, dafür aber Zusammenhänge besser verstehen und eigenständig Lösungen finden, wie sie Herausforderungen meistern können. Damit bereiten wir sie gut vor auf die Anforderungen einer digitalen Gesellschaft.
«Die Herausforderung ist, Informationen sinnvoll zu dosieren und ihre Qualität richtig einzuschätzen.»
Steiner: Lernen heisst nicht, dass vorne jemand steht, der alles weiss. Unterricht bedeutet auch, voneinander zu lernen. Dazu gehört, dass nicht nur die Älteren den Jüngeren etwas beibringen, sondern auch umgekehrt. Die Digitalisierung ist auch eine Chance, Brücken zwischen den Generationen zu schlagen. Menschen haben unterschiedliche Stärken. Einige Lehrpersonen sind digitale Cracks, andere haben andere Qualitäten, die ebenso wichtig sind. Sie ergänzen sich und lernen voneinander.
Steiner: Die Frage stellte sich vor Jahrzehnten ähnlich, als Taschenrechner eingeführt wurden. Die Schulen müssen klären, in welchen Settings sie den Einsatz von generativer KI erlauben und in welchen nicht. Grundsätzlich finde ich, dass Schulen – vor allem auf den höheren Stufen – einüben sollten, wie man auf sinnvolle und verantwortungsvolle Weise Künstliche Intelligenz einsetzt. Das kann auch auf der Ebene von Leistungsnachweisen geschehen, wenn gleichzeitig überprüft werden kann, dass die Lernenden die Inhalte auch verstanden und durchdrungen haben. Je mehr KI man zulässt, desto anspruchsvoller wird es natürlich, die Eigenleistung der Schülerinnen und Schüler zu beurteilen.
Schaepman: Es wäre ein Fehler, althergebrachte Prüfungsmodelle und Beurteilungsmassstäbe einfach ins KI-Zeitalter zu übertragen. Dann wären wir nur noch mit der Frage beschäftigt, wie wir Betrug verhindern oder aufdecken können. Viel wichtiger und interessanter ist aber die Frage, wie wir Kreativität fördern und honorieren können. Wir sollten also neue Prüfungsmodelle entwickeln, die es den Lernenden erlauben, ihre kognitiven Eigenleistungen auch in Arbeiten, die sie mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellt haben, unter Beweis zu stellen
«Lernen heisst nicht, dass vorne jemand steht, der alles weiss.»
Steiner: Speziell im Bereich Datenschutz und Privatsphäre fehlen zum heutigen Zeitpunkt klare Regeln. Daran müssen Politik, Bildung und Wissenschaft gemeinsam arbeiten. Den Universitäten kommt dabei eine wichtige Rolle zu, sie unterstützen die Diskussion mit ihrer Expertise. Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, dass wir über Reglementierung allein einen guten Umgang mit KI finden.
Schaepman: Einverstanden! Die Förderung des kompetenten Umgangs mit generativer KI ist wichtiger und wirksamer als ihre Reglementierung. Man unterschätzt das Tempo und die Eigendynamik der technologischen Entwicklung, wenn man glaubt, sie durch umfangreiche Gesetze einhegen zu können. Zudem bergen voreilige Reglementierungen die Gefahr, erwünschte Innovation zu behindern.
«Die Förderung des kompetenten Umgangs mit generativer KI ist wirksamer als ihre Reglementierung.»
Schaepman: Das heisst zum Beispiel, dass wir als Individuen lernen müssen, auf mündige Art mit generativer KI umzugehen. Dazu müssen wir verstehen, wie sie arbeitet. Je grösser die Datenmengen sind, mit der sie gefüttert wird, desto stärker sinkt die durchschnittliche Aussagekraft der einbezogenen Daten und desto grösser wird das Risiko flacher oder verzerrter Ergebnisse. Gesellschaftlich ohnehin schon stark verbreitete Denkschablonen, Sprachmuster oder Vorurteile werden noch dominanter, weil KI sie bevorzugt – zumindest heute noch. Es liegt in unserer individuellen Verantwortung, dies zu erkennen und auszugleichen, wenn wir generative KI nutzen. Wie gut uns das gelingt, hängt von unserem Reflexionsvermögen, unserer Sensibilität, unserer Bildung ab.
Eine Aufgabe der Wissenschaft wiederum ist es, Künstliche Intelligenz «schlauer» – im Sinne kognitiver Fähigkeiten – zu machen und Lösungen für ihren Einsatz in verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel Recht oder Medizin zu entwickeln. An der Schnittstelle von digitaler Technologie und Gesellschaft hat die UZH in den letzten Jahren bedeutende Forschungs- und Lehrkapazitäten aufgebaut. Im Rahmen der Digital Society Initiative (DSI) und mit Hilfe der Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) haben wir allein 2023 acht neue Professuren geschaffen, seit 2016 über dreissig. Dabei handelt es sich um zusätzliche Investitionen in eine digitale Zukunft, die zur normalen institutionellen Weiterentwicklung der UZH hinzukommen.
Steiner: Die digitale Transformation ist ein klassisches Querschnittsthema. Alle sind davon betroffen, deshalb lohnt sich hier die Zusammenarbeit besonders. Die 2020 lancierte DIZH hat dazu geführt, dass die beteiligten Hochschulen – die UZH, die ZHAW, die ZHdK und die PHZH – viel stärker miteinander kooperieren als jemals zuvor. Die Themen reichen von Cybersicherheit über Gesundheit bis hin zu digital unterstütztem Krisenmanagement. Ausserdem fördert die DIZH innovative Entwicklungen in der Lehre. Diese Zusammenarbeit müssen wir weiterhin stärken.
Schaepman: Die elf Universitäten, die das Netzwerk Una Europa bilden, unterstützen sich gegenseitig auf mehreren Entwicklungsebenen, zum Beispiel in der Forschungsförderung und bei der Internationalisierung der Lehre. Die UZH ist als Kooperationspartnerin attraktiv und international sehr gut eingebunden: Neben Una Europa engagiert sich die UZH in mehreren strategischen Partnerschaften und weiteren internationalen Netzwerken, wie LERU und U21. Die globale Vernetzung der UZH-Forschung insgesamt ist aber viel weitreichender, als es institutionelle Kooperationen je sein könnten. Wissenschaft ist ein globales Bezugssystem, in dem Forschende auf vielfältigste Weise miteinander interagieren. Neues Wissen entsteht in grenzüberschreitender Zusammenarbeit – und im grenzüberschreitenden Wettbewerb.
Schaepman: Die besten Bedingungen für den wissenschaftlichen Wettbewerb bietet für uns der Europäische Forschungsraum, deshalb ist aus Sicht der UZH eine Teilnahme der Schweiz an Horizon Europe und den Folgeprogrammen mehr als erwünscht. Auf der anderen Seite sollten wir mehr Forschungskooperationen mit Ländern des globalen Südens anstreben. Wir können viel lernen von Forschenden, die einen anderen Blick auf unsere Welt haben als wir, andere Fragen stellen, andere Lösungsstrategien kennen und andere Prioritäten setzen.
«Wir können viel lernen von Forschenden aus Ländern des globalen Südens, die einen anderen Blick auf die Welt haben als wir.»
Steiner: Das passt doch sehr gut zusammen! Unsere Hochschulen sind einerseits lokal verankert. Gleichzeitig haben sie eine Wirkung weit über unsere Grenzen hinaus. Diese Mischung ist unser Erfolgsrezept. Viele Firmen kommen gerade deswegen hierher, weil sie hier ein stabiles und gleichzeitig global ausgerichtetes Umfeld inklusive global ausgerichteter Hochschulen vorfinden. Welche internationalen Partnerschaften und Kooperationen die UZH pflegt, entscheidet die UZH selbst. Wenn ich es kann, versuche ich, Türen zu öffnen. Kürzlich konnte ich zum Beispiel ein Memorandum of Understanding unterzeichnen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem Kanton Zürich und dem Land Baden-Württemberg. Umgekehrt profitiert auch die Politik und damit der Kanton immer wieder von den Hochschulen. Ich erinnere hier zum Beispiel an die Coronapandemie, während der wir dank engem Austausch mit der Wissenschaft Antworten auf völlig neue Fragen fanden.
Steiner: Meinungsäusserungsfreiheit und ein offener Austausch sind grundlegend in einer demokratischen Gesellschaft. Diese Offenheit wäre aber wenig wert ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit, einander zuzuhören, um unterschiedliche Interessen und Sichtweisen einzuordnen und zu verstehen. Die Universität spielt da eine wichtige und sehr anspruchsvolle Rolle, indem sie unterschiedliche Positionen in einen objektiven Rahmen setzt und es damit ermöglicht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu reflektieren. Das ist von grosser Bedeutung für die Demokratie.
«Die Universität ist von grosser Bedeutung für die Demokratie.»
Schaepman: Der offene Diskurs an der UZH basiert auf unseren Werten und ethischen Grundsätzen. Er erfordert ein Klima des Respekts und der gegenseitigen Wertschätzung, zu dem wir Sorge tragen müssen. Aufrufe zur Gewalt beispielsweise tolerieren wir nicht, dementsprechend haben wir im Herbst 2023 eine Kundgebung verboten, auf der Hassparolen verbreitet werden sollten.
Gute Rahmenbedingungen für einen lebendigen Diskurs zu schaffen, bedeutet aber auch, Dissens nicht nur zu akzeptieren, sondern auch eine positive Haltung dazu einzunehmen. Der heute wieder viel zitierte Report des Kalven-Komitees an der Universität Chicago aus dem Jahr 1967 hält fest, dass Gedankenvielfalt, intellektuelle Freiheit, Kritik und Widerspruch unabdingbar für Erkenntnisprozesse sind. Er betont auch, dass gute Universitäten Orte sind, wo Gewissheiten erschüttert werden, wo Missbehagen an bestehenden sozialen Vereinbarungen artikuliert wird und wo neue Lösungen vorgeschlagen werden. Es liegt im Interesse der Gesellschaft, dass die Universitäten gerade auch unbequemen Stimmen, die den Konsens infrage stellen, Raum geben. Gleichzeitig dürfen sich Universitäten nicht auf die eine oder andere politische Seite ziehen lassen, sondern sollten als Institutionen neutral bleiben. Die UZH ist zum grössten Teil von der öffentlichen Hand finanziert. Das ist ein grosser Vorteil und eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sie als Institution ihre Neutralität wahren und einen geeigneten Rahmen für ein vielstimmiges Miteinander bieten kann.