Die Präsidentin des Universitätsrats und der Rektor der UZH im Gespräch
Bildungsdirektorin Silvia Steiner und UZH-Rektor Michael Schaepman diskutieren im Interview über die Rolle der Universität im Bildungssystem, über Innovationskraft, internationale Beziehungen, Forschungsfreiheit und gesellschaftliche Verantwortung.
Silvia Steiner: Die grossen Herausforderungen unserer Zeit halten sich nicht an Landesgrenzen – und schon gar nicht an die Grenzen von Fachdisziplinen. Um Antworten auf komplexe Probleme wie die Klimakrise und ihre Folgen zu finden, müssen verschiedene Fächer ihre unterschiedlichen Perspektiven zusammenbringen. Die UZH fördert diese Vernetzung in der Forschung wie in der Lehre. Als vielfältige Volluniversität hat sie dafür beste Voraussetzungen.
Michael Schaepman: Die UZH hat eine zentrale Aufgabe: Sie befähigt Menschen zur nachhaltigen Gestaltung ihrer Zukunft. Ich meine damit die individuelle berufliche Zukunft unserer Studierenden und zugleich die gemeinsame Zukunft von uns allen. Bildung und Forschung sind Grundlagen für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Steiner: Unsere Gesellschaft und unsere Arbeitswelt verlangen nach Menschen, die Zusammenhänge verstehen und lösungsorientiert denken und handeln können. Die Basis dazu legen wir bereits mit dem Lehrplan 21 an der Volksschule. Er legt den Fokus auf die Förderung von Fähigkeiten und Kompetenzen statt auf das reine Abarbeiten von vorgegebenem Schulstoff.
Steiner: Die Einführung des Lehrplans 21 hat Impulse für das ganze Bildungssystem gegeben. Auf allen Stufen – in der Berufsbildung, in den Gymnasien wie auch an den Hochschulen – werden die pädagogischen Formate laufend angepasst.
Schaepman: Auch an der UZH hat die kompetenzorientierte Lehre zugenommen. Interaktive Formate gewinnen immer mehr an Bedeutung. Dies berücksichtigen wir auch bei der Konzeption neuer Lehrräume, etwa im geplanten FORUM UZH. Die 2022 lancierte Initiative «Zukunft der Lehre an der UZH» ermöglicht eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Lehre auf lange Sicht.
«Die UZH befähigt Menschen zur nachhaltigen Gestaltung ihrer Zukunft.»
Schaepman: Es ist wichtig, dass sich Dozierende auf das sich wandelnde Lernverhalten der Studierenden einstellen. Lassen Sie mich dazu eine Anekdote erzählen. Sie handelt von meiner ersten Vorlesung als frischgebackener Professor im niederländischen Wageningen. Das Thema war die Physik von Satellitenumlaufbahnen. Bereits nach zwei Minuten meldete sich ein Student. Ihm sei schleierhaft, warum man das überhaupt wissen müsse, sagte er. Ich war perplex. Ich hatte nicht daran gedacht, zu erklären, dass man ohne dieses Wissen die ganze Erdbeobachtung nicht verstehen kann. Die niederländischen Studierenden waren schon damals an einen kompetenzorientierten Unterricht gewöhnt und erwarteten von ihren Dozierenden begründete Hinweise auf den Zweck von Lerninhalten. Darauf war ich damals nicht eingestellt, für mich als Schweizer war der Stoffplan damals Begründung genug. Heute ist das anders.
«Ein durchlässiges Bildungssystem bringt die Menschen dahin, wo sie gebraucht werden.»
Schaepman: Eine Studie von 2021 zeigt, dass UZH-Abgängerinnen und -Abgänger für den Start ins Berufsleben gut vorbereitet sind. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt sehr begehrt, finden entsprechend rasch eine Stelle und erhalten überdurchschnittlich hohe Löhne.
Steiner: Die OECD übt regelmässig Kritik, weil wir angeblich zu wenig Akademikerinnen und Akademiker ausbilden, verkennt dabei aber die Besonderheiten unseres Bildungssystems. Sie schaut nur auf den im internationalen Vergleich kleineren Anteil der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten und vernachlässigt jene, die per Berufsmatur die Hochschulreife erlangen. Die Durchlässigkeit ist eine grosse Qualität unseres Systems, die wir pflegen und kontinuierlich ausbauen. Sie fördert die Chancengerechtigkeit und führt die Menschen dahin, wo sie gebraucht werden und am produktivsten sind. Damit leisten wir auch einen wichtigen Beitrag gegen den Fachkräftemangel. Denken wir zum Beispiel an den Gesundheitsbereich: Die UZH konnte ihre Ausbildungsplätze bei den Ärztinnen und Ärzten ausbauen, indem sie zusammen mit den Universitäten Luzern und St. Gallen je einen Joint Medical Master mit 40 Studienplätzen anbietet.
Schaepman: Ich teile die Haltung, dass wir die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems weiter stärken sollten. Flexible Bildungswege ermöglichen es den Menschen, selbstständig ihren individuellen Weg zu gehen, und erleichtern es ihnen, sich auf Veränderungen in der Berufswelt einzustellen. Das kommt der ganzen Gesellschaft zugute, auch wenn nicht jeder einzelne Weiterbildungswunsch zur Behebung des Fachkräftemangels beiträgt. Überhaupt sollten wir die Berufs- und Hochschulbildung als eine Einheit sehen, statt das Trennende zu betonen. Die Berufsbildung kann auf ein Hochschulstudium vorbereiten, umgekehrt ist ein Hochschulstudium auch berufsbezogen.
«Wir sollten die Berufs- und die Hochschulbildung als eine Einheit sehen, statt das Trennende zu betonen.»
Steiner: Herkunft und Geschlecht haben noch immer einen zu grossen Einfluss, sie spuren Bildungs- und Berufskarrieren vor, die auch anders verlaufen könnten. Zum Beispiel empfehlen viele Eltern ihren Kindern, den Weg einzuschlagen, der ihnen selbst vertraut ist, weil sie glauben, ihre Kinder dann besser unterstützen zu können. Bildungsbiografien werden oft vererbt. Daran müssen wir arbeiten.
Schaepman: Gleichzeitig werden aber die Möglichkeiten, sich über Bildungs- und Berufswege zu informieren, immer vielfältiger und besser, auch dank dem Erfahrungsaustausch über digitale Medien. Das erleichtert es jungen Leuten, ihren Weg zu finden. Sie vergleichen die Optionen und wägen ab, welche davon sie weiterbringen. Dies wiederum motiviert die Bildungseinrichtungen auf allen Stufen – einschliesslich der UZH –, möglichst gute und attraktive Bildungsangebote bereitzustellen.
Steiner: Standorte, die zugleich über eine Volluniversität, eine technische Universität und über universitäre Spitäler verfügen, sind im Vorteil. In Zürich kommen noch Fachhochschulen und die Pädagogische Hochschule dazu. Es gibt weltweit nur wenige andere Zentren mit einer ähnlichen Dichte an hochkarätigen Institutionen in Bildung, Forschung und Gesundheit.
Steiner: Ein gutes Beispiel ist die Universitäre Medizin Zürich, kurz UMZH. Die Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen UZH, ETH Zürich und der vier universitären Spitäler in diesem Rahmen trägt schon nach kurzer Zeit Früchte. Der Aufbau der Biomedizinischen Informatikplattform, der jetzt in Angriff genommen wird, wäre anders als in einer solch starken Gemeinschaft kaum denkbar. Die Plattform wird der Forschung Gesundheitsdaten konsolidiert zur Verfügung stellen – auf der Basis genauer rechtlicher und ethischer Bestimmungen. Für die Präzisionsmedizin, die auf Daten angewiesen ist, ist das ein wichtiger Schritt.
Schaepman: Eine weitere Voraussetzung für Innovationstärke ist die Kombination von starker Grundlagenforschung und wissenschaftlicher Autonomie. Und genau diese Kombination zeichnet die UZH aus. Die Politik hat das Vertrauen, dass wir mit dem Geld, das uns zur Verfügung gestellt wird, gut umgehen. Der Anteil «wertfreier», also nicht direktionaler bzw. zweckgebundener Grundlagenforschung ist an der UZH im internationalen Vergleich hoch – und gerade deshalb sind wir innovativ und forschungsstark.
Schaepman: Erfindungen macht man nicht per Knopfdruck. Wir lassen den Forschenden die Freiheit, zu den Themen zu forschen, die ihnen wichtig sind. Wenn sich aus den Forschungsergebnissen Perspektiven für eine praktische Anwendung ergeben, unterstützen wir den Transfer. Wir stellen unternehmerisches Know-how zur Verfügung für jene, die es wollen und brauchen. Aber wir setzen keinen Druck auf, Forschung mit Blick auf kommerzialisierbare Ergebnisse zu betreiben.
«Die ausgeprägte Hochschulautonomie ist eine Schweizer Spezialität wie Schokolade oder das Sackmesser.»
Steiner: Das Autonomiemodell der UZH funktioniert sehr gut. Es entspricht dem in der Schweiz bewährten Subsidiaritätsprinzip. Die Universität weiss selbst am besten, wie sie ihre Ziele erreichen kann. Die Politik setzt den Rahmen, gibt Anstösse zur Weiterentwicklung und kontrolliert, ob die Resultate stimmen und ob die Ressourcen verantwortungsvoll eingesetzt werden. Mit der Einführung der Governance 2020+ wurde die Autonomie der UZH nachhaltig gestärkt. Ein zusätzliches Element des Autonomiemodells, an dem wir derzeit arbeiten, ist eine Leistungsvereinbarung zwischen Kanton und Universität.
Schaepman: Eine Leistungsvereinbarung ist aus meiner Sicht eine gute Sache, weil sie verdeutlicht, was die UZH zum Nutzen der Gesellschaft beiträgt. Das stärkt das Vertrauen. Wir müssen einfach aufpassen, dass die Indikatoren nicht zu eng definiert werden, damit sie keinen zu grossen Regulierungsaufwand generieren.
Schaepman: Die ausgeprägte Hochschulautonomie ist eine Schweizer Spezialität wie Schweizer Schokolade oder das Sackmesser – nur wissen das leider viel zu wenige.
«Die Zusammenarbeit der Disziplinen an der UZH ist vorbildlich für die ganze Gesellschaft.»
Steiner: Damit eine Wiederassoziierung realistisch wird, muss es erst zu Verhandlungen kommen. Davon sollten wir uns aber nicht abhängig machen, sondern selbstbewusst auf unsere Stärken bauen und für gute Übergangslösungen sorgen. Hier gibt es durchaus noch Spielraum: Momentan arbeitet der Bund zum Beispiel am Antrag für eine Vollmitgliedschaft der Schweiz in sechs Netzwerken des European Research Infrastructure Consortium, kurz ERIC. Diese Abkommen nützen auch der EU. Denn mit dem Ausschluss der Schweiz schadet sich die EU selbst. Zürich gehört zu den innovativsten Regionen Europas, wie das Innovation Scoreboard der EU zeigt. Unsere Hochschulen sind als Kooperationspartner international begehrt. EU-Länder wie Deutschland, deren Forschung eng mit jener der Schweiz verwoben ist, haben kein Interesse daran, diese Verbindungen zu schwächen. Allein im Bereich Medizin unterhält die UZH 325 Forschungskooperationen mit Institutionen in Deutschland.
Schaepman: Unsere Forschung ist stark aufgestellt, aber nicht alle Folgen des Ausschlusses aus Horizon Europe lassen sich kompensieren. Besonders nachteilig ist, dass wir am Wettbewerb um EU-Grants nicht mehr teilnehmen und damit unsere Leistungsfähigkeit nicht mehr unter Beweis stellen können. Reputation – die wichtigste Währung in der Wissenschaft – gewinnen wir im Wettstreit. Wissenschaft ist ähnlich kompetitiv wie zum Beispiel der Sport. Stellen Sie sich vor, die Schweiz als starke Skination dürfte nicht mehr am Weltcup, sondern nur noch an nationalen Rennen teilnehmen. Die Anreize für Topleistungen würden sinken, der Sport für Spitzenathletinnen und
Schaepman: Wir investieren viel Energie in die Pflege und Erweiterung unserer internationalen Netzwerke. Sowohl bilaterale Partnerschaften wie Hochschulallianzen spielen dabei eine Rolle. Der Beitritt zu Una Europa 2022 ermöglicht es uns, Vorhaben zu Themen wie Studienmobilität oder Hochschulentwicklung zusammen mit elf starken Partneruniversitäten voranzutreiben, jede von ihnen aus einem anderen europäischen Land. Was speziell die Forschungszusammenarbeit betrifft, sind bilaterale Partnerschaften wertvoll, aber jede dieser Partnerschaften ist jeweils nur für eine begrenzte Zahl von Fächern attraktiv. Zur Förderung von Forschungskooperationen ist Horizon Europe als weltweit grösstes Hochschulnetzwerk effektiver.
«Das FORUM UZH steht für eine offene Universität, die Begegnung, Austausch und Vernetzung ermöglicht.»
Steiner: … und kann sich dabei auf die forschungs- und innovationsfreundliche Einstellung der Zürcher Bevölkerung stützen. Der Regierungsrat hat die Mittel für Forschung und Lehre an den universitären Spitälern um 12,3 Millionen auf 114 Millionen Franken aufgestockt, zusätzliche 15 Millionen stellen der Kanton und die UZH ab 2023 gemeinsam zur Verfügung. Mit grosser Freude unterstützt der Regierungsrat das FORUM UZH – das neue Hauptgebäude der UZH, das bis 2028 gebaut werden soll – und beantragt dem Kantonsrat 598 Millionen Franken. Das FORUM UZH steht für eine offene Universität, die Begegnung, Austausch und Vernetzung ermöglicht.
Schaepman: Indem sie ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Die UZH ist Teil der Gesellschaft. Alles, was sie tut, steht in einem gesellschaftlichen Zusammenhang und hat entsprechende Auswirkungen. Die Autonomie der UZH, von der wir sprachen, ist im Grunde nichts anderes als ein Vertrauensvorschuss, den uns die Politik und damit letztlich die Gesellschaft gibt. Dieses Vertrauen rechtfertigen wir durch die Qualität und den guten Ruf unserer Lehre, unserer Forschung und unserer Dienstleistungen – aber auch dadurch, dass wir die Folgen des wissenschaftlichen Handelns bedenken.
Schaepman: Vielleicht ist die Wissenschaft schon in einigen Jahren in der Lage, aus körpereigenen Stammzellen menschliches Leben zu generieren. Welche Folgen hätte das für die Gesellschaft? Wie stellen wir uns darauf ein? Die technologische Entwicklung eilt dem allgemeinen Verständnis voraus, weshalb die Wissenschaft auch die Aufgabe hat, zu erklären, zu sensibilisieren und Reflexionen anzustossen. Wie Innovationen von der Gesellschaft aufgenommen und verarbeitet werden, hängt stark von der Qualität öffentlicher und politischer Debatten ab. Darauf kann und muss die Wissenschaft Einfluss nehmen, indem sie ihre vielfältigen und unabhängigen fachlichen Gesichtspunkte einbringt. Nicht nur durch Lehre, Forschung und Innovation leistet Wissenschaft einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch durch Teilnahme am öffentlichen Diskurs.
Steiner: Gute Beispiele dafür, wie das geht, sind für mich die Digitalisierungsinitiative der Zürcher Hochschulen (DIZH) und das Zurich Knowledge Center for Sustainable Development (ZKSD). Diese interdisziplinären Thinktanks, an denen sich die UZH zusammen mit anderen Zürcher Hochschulen massgeblich beteiligt, helfen dabei, die Chancen der digitalen Transformation kreativ zu nutzen und Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung zu finden. Ich halte die Zusammenarbeit der Disziplinen an der UZH – speziell auch in den Universitären Forschungsschwerpunkten – generell für vorbildlich für die ganze Gesellschaft. Schon deshalb, weil man davon lernen kann, unterschiedliche Perspektiven in einen konstruktiven Dialog miteinander zu bringen.