Interview Studium und Lehre
«Das Ganze im Blick behalten»
Die Initiative «Zukunft der Lehre an der UZH» setzt strategische Leitplanken für die Lehrentwicklung. Wohin die Reise geht und was die Initiative den Dozierenden und Studierenden bringt, erklärt Prorektorin Gabriele Siegert im Interview.
Frau Siegert, welche universitäre Lehre würden Sie sich wünschen, wenn Sie heute studieren würden?
Gabriele Siegert: Ich würde mir eine Lehre wünschen, die mich anregt, mich herausfordert – und mir hilft, meine Ziele zu erreichen.
Wieviel individuelle Freiräume hatten Sie als Studentin bei der Gestaltung Ihres Studiums?
Siegert: Ich habe sehr selbstbestimmt studiert. Das wäre mir auch heute noch wichtig. Gleichzeitig wäre ich froh darum, möglichst präzise darüber informiert zu werden, was mich im Studium erwartet und was von mir erwartet wird.
Ein Studium soll uns auf die Zukunft vorbereiten. Aber wissen wir, wie die Welt in zehn oder zwanzig Jahren aussehen wird?
Siegert: Es wäre vermessen, dies zu behaupten. Aber es gehört ja gerade zu den Stärken eines Universitätsstudiums, dass es darauf vorbereitet, mit Unsicherheiten umzugehen. Es lehrt uns, mit dem Lernen nie aufzuhören. Es befähigt die Studierenden, eine berufliche Laufbahn aufzubauen und sich kritisch und verantwortungsbewusst an der gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen. Dies immer im Wissen, dass nichts für immer so bleibt, wie es ist.
Die Initiative «Zukunft der Lehre» setzt Leitplanken für die Weiterentwicklung und Stärkung der Lehre an der UZH. Was war der Anlass für diese Initiative?
Siegert: Der unmittelbare Anlass war die Pandemie. Die Lehre an der UZH war massiv davon betroffen, die Veranstaltungen mussten auf einmal digital durchgeführt werden. Dabei stellte sich schon bald die Frage, was nach der Pandemie mit all diesen Neuerungen geschehen soll.
Die UZH hätte zum Stand vor der Pandemie zurückzukehren können.
Siegert: Damit hätten wir eine grosse Chance verpasst. Die Umstellung der Lehre während der Pandemie hat viel Kraft gekostet, aber zugleich auch sehr viel kreative Energie freigesetzt. Speziell im Hinblick auf digitale Formate haben die Dozierenden an der UZH vieles ausprobiert und dabei wertvolle Erfahrungen gemacht. Diesen Schwung wollen wir nutzen.
Was ist der Kerngedanke der Initiative «Zukunft der Lehre»?
Siegert: Ganz schlicht gesagt geht es darum, die Lehre an der UZH weiterzuentwickeln und zu stärken. Das ist ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Auftrags der UZH. Für die individuellen Chancen unserer Studierenden ist eine gute, zeitgemässe und zukunftsfähige Lehre essenziell.
«Dozierende erhalten mehr Anreize und Möglichkeiten, gute und innovative Ideen in der Lehre zu entwickeln und umzusetzen.»
Welche Akzente setzt die Initiative?
Siegert: Gute Lehre steht und fällt mit dem Engagement und der Kompetenz unserer Dozierenden. Deshalb schaffen wir erstens für unsere Dozierenden mehr Anreize und Möglichkeiten, gute und innovative Ideen in der Lehre zu entwickeln und umzusetzen. Zweitens arbeiten wir international stärker mit anderen Universitäten zusammen. Drittens wollen wir den Zugang zum universitären Lehrangebot weiter flexibilisieren, um das lebenslange Lernen zu fördern. Viertens verbessern wir den (digitalen) Support. Und fünftens arbeiten wir an einer Vision für den Campus der Zukunft, also an geeigneten Lehr- und Lernumgebungen, die den sich verändernden Ansprüchen in der Lehre gerecht werden.
Die Entwicklung geht also auf fünf Handlungsfeldern voran. Warum ist die Initiative inhaltlich so breit angelegt?
Siegert: Man muss bei der Lehrentwicklung immer das Ganze im Blick zu behalten. Am Ende muss in der Lehre alles zusammenpassen, auch scheinbare Trivialitäten muss man dabei berücksichtigen. Was nützt es zum Beispiel, ein raffiniertes hybrides Lehrformat mit aus dem Ausland zugeschalteten Teilnehmenden auf die Beine zu stellen, wenn dafür am Ende wegen eines zu wenig flexiblen Buchungssystems kein geeigneter Raum für die Durchführung gefunden werden kann? Oder was bringt ein transdisziplinäres Seminar, wenn es am Ende in kein Curriculum passt?
Wie sind Sie vorgegangen, um die Stossrichtungen der Initiative «Zukunft der Lehre» festzulegen?
Siegert: Wir haben uns zuerst einen Überblick über den systemischen Kontext verschafft, in dem sich die UZH bewegt. Wir haben die einschlägige hochschuldidaktische Forschungsliteratur gesichtet und uns anhand einer internationalen Benchmarking-Studie angeschaut, welche Schwerpunkte jene Hochschulen setzen, die in der Lehrentwicklung führend sind.
«Die UZH hat das Potenzial, in der Lehrentwicklung zur europäischen Spitze aufzuschliessen.»
Welches sind demnach international die wichtigsten Trends in der Lehrentwicklung?
Siegert: Die gesellschaftlichen Erwartungen an die Universitäten sind generell hoch. Universitäten gelten als Motoren des gesellschaftlichen und technologischen Wandels, zugleich sollen sie mithelfen, dessen Folgen zu bewältigen. So sollen sie zum Beispiel die Studierenden befähigen, den komplexen Herausforderungen unserer Zeit mit analytischen Fähigkeiten und Problemlösungskompetenzen zu begegnen. Um dieser Erwartung gerecht zu werden, bauen viele Universitäten ihre inter- und transdisziplinären Lehrangebote aus.
Intensiv wird auch darüber diskutiert, wie sich Universitäten für breitere Kreise öffnen können. Die Vision einer «University without walls» der European University Association ist dafür ein gutes Beispiel. Man kann diese Öffnungstendenzen im Zusammenhang mit einem anhaltenden Trend zu immer heterogeneren Studierendenpopulationen sehen. Dieser Trend begann schon mit der Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre und hat sich seither mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, der Förderung des lebenslangen Lernens und der Internationalisierung der Universitäten ständig verstärkt.
Wie bewerten Sie diesen Trend zu mehr Offenheit, Diversität und Internationalität an den Universitäten?
Siegert: Wissenschaft und damit auch die Universitäten brauchen Offenheit, Diversität und Internationalität wie der Mensch die Luft zum Atmen. Die Entwicklung ist für die universitäre Lehre aber auch eine Herausforderung. Denn je unterschiedlicher die individuellen Voraussetzungen sind, die Studierende mitbringen, desto aufwändiger wird ihre Betreuung und die Einhaltung von Qualitätsstandards in der Lehre. Die Universtäten sind hier auf innovative Lösungen angewiesen.
Daraus ergibt sich ein weiterer Entwicklungstrend: Immer mehr Universitäten schliessen sich zu Netzwerken und Allianzen zusammen, um Ressourcen bei der Weiterentwicklung der Lehre zu teilen – zum Beispiel, indem sie partnerschaftlich neue Formate oder Plattformen nutzen oder gemeinsam Modelle für neue Lern- und Zertifizierungsformen entwickeln.
Welchen Anspruch verfolgt die UZH angesichts dieser Entwicklungstrends in der Lehre?
Siegert: Wir wollen die internationale Entwicklung stärker als bisher mitgestalten. In der Forschung spielt die UZH international eine führende Rolle, dasselbe soll in Zukunft auch für die Lehre gelten.
Wo steht die UZH heute?
Siegert: Es gibt öffentliche europäische Universitäten, die in der Lehrentwicklung weiter sind als wir, insbesondere in den Niederlanden und Skandinavien. Aber die UZH hat das Potenzial dazu, zur europäischen Spitze aufzuschliessen. Mit der Einführung eines durchdachten Qualitätssicherungssystems und der Gründung einer schweizweit einzigartigen School for Transdisciplinary Studies haben wir schon zwei wichtige Schritte in diese Richtung getan. Zu erwähnen ist auch das vielfältige Weiterbildungsangebot, das die UZH zu einer Vorreiterin beim lebenslangen Lernen macht. Und schliesslich ist da noch der Beitritt der UZH zum Hochschulnetzwerk UNA Europa im April 2022. Diesen Schritt halte ich für besonders wichtig, denn gemeinsam mit unseren UNA-Partneruniversitäten können wir Entwicklungen in der Lehre noch dynamischer vorantreiben und unser Studienangebot weiter internationalisieren.
«Für Dozierende wird es einfacher, internationale Lehrangebote aufzugleisen und durchzuführen.»
Welchen Nutzen haben die Dozierenden von der Stärkung internationaler Netzwerke?
Siegert: Für Dozierende wird es einfacher, internationale Lehrangebote aufzugleisen und durchzuführen, auch in administrativer Hinsicht. Internationale Kooperationsprojekte sind in der Forschung gang und gäbe, künftig werden sie auch in der Lehre viel häufiger werden.
Einen starken Akzent setzt die Initiative «Zukunft der Lehre» wie schon erwähnt bei der Innovationsförderung. Auf welchen Erfahrungen kann die UZH dabei aufbauen?
Siegert: Die UZH fördert seit 2016 innovative und zukunftsweisende Ideen im Unterricht mit dem sogenannten «Lehrkredit». Viele der geförderten Lehrveranstaltungen sind inzwischen fester Bestandteil von Studiengängen. Diese guten Erfahrungen haben uns ermutigt, die Innovationsförderung in grösserem Massstab fortzusetzen.
Wie gross ist der Umfang?
Siegert: Der bisherige Lehrkredit wurde vergangenen Sommer durch die breiter angelegte universitäre Lehrförderung (ULF) abgelöst, die aus fünf aufeinander abgestimmten und unterschiedlich profilierten Förderlinien besteht. Die Fördersumme wurde fast verdreifacht und beträgt jährlich fast zwei Millionen Franken.
Welche wichtigen Neuerungen gibt es ausserdem bei der Innovationsförderung?
Siegert: Bisher war die Innovationsförderung eher punktuell ausgerichtet. Neu sollen geförderte Projekte innerhalb der UZH sichtbarer werden und durch ihr gutes Beispiel die Lehrentwicklung insgesamt inspirieren. Mit anderen Worten: Die Wirkung der Projektförderung soll nachhaltiger werden. Möglichst viele Dozierende sollen von neuen Ideen profitieren, deshalb unterstützen wir Dozierenden-Netzwerke und pflegen Plattformen wie Teaching Tools. Und statt wie bisher vorwiegend einzelne Lehrveranstaltungen und Module zu fördern, setzen wir neu einen Schwerpunkt bei der Entwicklung und Weiterentwicklung ganzer Studienprogramme.
«Die Lehrentwicklung sollte sich an der Frage orientieren, was die Studierenden am Ende ihres Studiums können und wissen sollen.»
Warum dieser Fokus auf die Studienrogramme?
Siegert: Die Lehrentwicklung sollte sich an der Frage orientieren, was die Studierenden am Ende ihres Studiums können und wissen sollen. Damit gelangen wir automatisch auf die Ebene der Studienprogramme, denn hier muss sichergestellt werden, dass alle Elemente eines Curriculums so aufeinander abgestimmt sind, dass die Studierenden im Laufe ihres Studiums die Lernziele erfüllen können.
Ausserdem sind Studienprogramme wichtig für die Erwartungssteuerung im Bezugsfeld zwischen universitärer Lehre, Studierenden und der Gesellschaft. Studienprogramme und die dazugehörigen Abschlüsse sind ein Versprechen an die Studierenden und die Gesellschaft. Sie sind eine starke Währung, der wir Sorge tragen müssen.
Erklären Sie das bitte noch genauer.
Siegert: Für die Studierenden ist es wichtig, ein genaues Bild davon zu erhalten, was sie vom Studium erwarten können und was von ihnen erwartet wird. Ein stimmiges Studienprogramm gibt darüber klar Auskunft. Das hilft Studierenden später auch im Berufsleben: Wer ein Studienprogramm erfolgreich abgeschlossen hat, verfügt über einen breit anerkannten Leistungsausweis.
Früher beruhten Erwartungen im Hinblick auf Studieninhalte und Leistungserwartungen auf teils unausgesprochenen Konventionen. Heute muss man bei der Beschreibung der Anforderungen viel expliziter und genauer sein, weil die Bildungslandschaft unübersichtlicher geworden ist und die Vielfalt der Bildungswege grösser.
Was ist ein gutes Studienprogramm?
Siegert: In einem guten Studienprogramm sind Lernziele, die konkreten Lehr-Lern-Settings und die Leistungsnachweise aufeinander abgestimmt. Als Orientierungsrahmen für die Weiterentwicklung von Studienprogrammen haben wir ein sogenanntes «UZH Curriculum» etabliert. Es definiert fakultätsübergreifende Qualitätsstandards als Orientierung für stimmige Studienprogramme. Diese sollen demnach forschungsbasiert und lernzielorientiert sein, sollen die studentische Mitwirkung in der Lehre fördern und mithilfe digitaler Unterstützung individuelle Zugänge zu den Lehrinhalten ermöglichen. Zudem sollen sie transdisziplinäre und internationale Bezugspunkte setzen.
«Die Präsenzlehre wird auch zukünftig im Mittelpunkt stehen. Komplementär dazu sollen – wo es sinnvoll ist – digitale Formate eingesetzt werden.»
Wie sollen Präsenzlehre und digitale Formate gewichtet werden?
Siegert: Die Präsenzlehre wird auch zukünftig im Mittelpunkt stehen, nur so können sich Studierende im universitären Umfeld sozialisieren. Das ist für den Studienerfolg eine wichtige Voraussetzung. Komplementär dazu sollen – wo es sinnvoll ist – digitale Formate eingesetzt werden, zum Beispiel um die Lehre flexibler zu gestalten und individuelle Vorlieben und Interessen der Studierenden noch besser zu berücksichtigen.
Bringt die Initiative «Zukunft der Lehre» eigentlich auch neue Verpflichtungen für die Dozierenden?
Siegert: Wer Fördermittel erhält, verpflichtet sich natürlich dazu, vereinbarte Leistungen zu erbringen. Ansonsten bringt die Initiative keine Verpflichtungen, sondern eröffnet Chancen. Wir haben an der UZH rund 4500 Dozierende, viele weitere Mitarbeitende unterstützen in verschiedensten Funktionen den Lehrbetrieb. Stellen Sie sich vor, wie viel an Wissen und Können, an Erfahrung und Einfallsreichtum da zusammenkommt! Darauf können wir bauen.